von Mathias Haden, 25.06.2016
Unterkühlter Blick in eine vermeintliche Zukunft. Wo bist du nur, Emmett Brown?
Musikalische Trends gehen an uns von MusicManiac, wie oft genug bewiesen, tendenziell eher spurlos vorüber. An Erzkonservativität nur von christlichen Hornochsen übertroffen, lebe ich in meiner Welt mit dem in seiner Zeit festgefahrenen Punk und dem bereits seit seinen Kinderschuhen barttragenden Country, während der Kollege wohl bis zum letzten Atemzug dem Metal die Treue halten wird und damit vergleichsweise noch als einigermaßen progressiv aussteigen dürfte. Interessiert an neuem sind wir aber selbstverständlich nach wie vor, ehe wir dieses zur Tür geleiten. So ist es uns nicht entgangen, dass die vergangenen Chartsjahre mehr als nur dominiert wurden von elektronischer Musik. Hier mal ein Saxophon-Sample, dort ein knalliger Elektrobeat, die Rezepte sind einfach und in der Regel billig, führen aber seit einiger Zeit nicht selten zum großen Erfolg. Logisch, dass sich da mittlerweile erneut ein riesiges Fundament entwickelt hat, das Hitparaden belagert und in manchen Fällen auch so mancher Bestenliste seinen Stempel aufdrückt. Holly Herndon kannte jedenfalls mit Ausnahme einiger Pitchfork-Hipster und vielleicht Fred Durst von Limp Bizkit ("I love electronic music, and I love drum and bass") kein Schwein, ehe ihr zweites Studioalbum Platform zum großen Kritikerliebling avancierte.
Dabei ist es fast schwierig, bei diesem Album auch wirklich von Musik zu sprechen. Auf den fünfzig Minuten finden sich keine zwei Melodien und man erkennt rasch, dass der Fokus hier eindeutig auf das Vereinen von Sounds und praktisch gar nicht auf Songs gerichtet ist. Hat durchaus auch seinen Reiz, sofern akkurat in die Praxis umgesetzt. Davon kann man auf Platform leider nicht allzu oft sprechen. Immer wieder durfte man ja lesen, wie innovativ und futuristisch Herndon ihre LP gestaltet hat und wie es die Künstlerin mit ihrem abgeschlossenen Elektronische Musik-Studium nicht versteht, die artistischen Vorzüge eines Computers zu nutzen und ihre menschlichen mit diesen verschmelzen zu lassen. Begraben unter allerlei technischen Manipulationen, Samples, Verzerrungen und Tempiwechsel, finden sich auf den ersten Blick praktisch keine erinnerungswürdigen Sequenzen, rauscht das Album samt seiner unterkühlten, praktisch klinisch toten Produktion vorbei, ohne etwas zu bewirken. Sinnbildlich dafür steht Lonely At The Top, einer jener ominösen, musikbefreiten Tracks, die eine Reaktion mit Bezeichnung ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response) auslösen sollen, ein beruhigendes, angenehmes Gefühl quasi. Diese Wirkung wird auf dem viereinhalbminütigen Skit aber zumindest bei mir verfehlt und schlägt mit seiner ungemütlichen Stimmung und dem eigenartigen Monolog gar in die entgegengesetzte Richtung aus: "You make us feel safe and secure / I don't know what I would do without you / What I would do without you / You make us better /I don't know how you do it". Ob sich Leute ernsthaft darauf einlassen können?
Bei wiederholtem Hören der LP stellt sich schließlich neben Respekt immerhin auch Gewissheit ein, dass da nicht nur wahllos irgendwelche Knöpfchen und Regler betätigt wurden. Morning Sun ist die löbliche Ausnahme, die neben surrender, starker Elektronik und verzerrtem, mehrstimmigen Gesang, auf Platform nur ein weiteres Instrument, auch so etwas wie eine melodiöse Komponente einfließen lässt. Das reicht immerhin, um locker den besten Track auf dem Album zu stellen. Chorus, das ironischerweise ohne Worte auskommt, schafft es ebenfalls, trotz seiner unkonventionellen Sounds und der harten, digitalen Hilfe eine Art Pop-Appeal zu generieren. Ähnlich ist der Opener Interference geraten, ebenfalls einer von den besseren Nummern hier, der leider an seiner monotonen Dynamik krankt und sich nicht wie Chorus ordentlich aufbaut. Das letzte essenzielle Soundgemenge der LP ist Locker Leak, das zwischen quirligen Loops, Samples, diffusen Textfetzen und teils Richtung Himmel, teils Richtung Hölle verzerrten Vocals einen leicht verstörenden, aber insgesamt guten Eindruck macht.
Das war es aber auch mit den erfreulichen Meriten der zweiten Studio-LP, ein Format, das Rotschopf Herndon nicht zu liegen scheint; und das nicht nur verdeutlicht dadurch, einen - zugegeben verkrampften - Elektronik-Flow mit einem musikbefreiten Skit zu unterbrechen. Am Ende gibt es mit Dao, Home und New Ways To Love noch dicke Elektronik-Beats, fetten Bass und lähmende Plattitüden ("I know that you know me better than I know me") von einem Menschen, der sich wohl eher zur Maschine als zu seinen Mitmenschen hingezogen fühlt. Und weil auch der Rest des Albums mit ausgewählten Samples und Beats nur punktuelle Stärken vorweisen kann, bleibt die Enttäuschung über ein vielerorts über Wert verkauftes Album groß. Darüber, dass auf diesem vielschichtigen Elektronikbastard kein Funke Emotion überspringt, keineswegs, denn das war vorher schon klar. Doch auch sonst bleibt nur ein knappes Dutzend an wirklich packenden Passagen in Erinnerung und kaum eine Textzeile, die den Überschwang der Kritiker, der immerhin ja Worte wie "innovativ" und "futuristisch" an Land gespült hat, rechtfertigen könnte. Wer sich für die Zukunft lose, nicht wirklich ineinander greifende Beats erhofft und pseudo-kryptische Wortfetzen, ummantelt von mechanischer Eiseskälte, der darf in Platform gerne eine visionäre Vision erkennen und sich unbehaglichen Träumen hingeben, vielleicht habe ja ich die Zukunft einfach nicht verstanden - und dabei kenne ich doch die Zemeckis-Trilogie.