von Kristoffer Leitgeb, 30.01.2021
Vielseitig, stimmlich verfüherisch und atmosphärisch und doch sträflich im Umgang mit dem Potenzial.
Auf Solopfaden wandernde Frontleute erfolgreicher Bands sind ja beinahe ein Naturgesetz. Irgendwann erwischt es fast einen jeden und der Drang zur unbedingten Selbstverwirklichung ist zu groß, um ihn noch innerhalb des Bandgefüges ausleben zu können. Wär aber auch merkwürdig, wenn es anders wäre. Nach Jahren oder gar Jahrzehnten des gemeinsamen Musizierens kann es doch schon einmal vorkommen, dass man sich der eigenen Ideen und künstlerischen Vorstellungen besinnt, das bisherige Produkt der Teamarbeit betrachtet und sich denkt, es ist dann einmal genug der Kompromisse. Die sind einfach zu kompromissig. Ob dann wirklich in jedem Fall auch die Masse, die Fanschar oder überhaupt irgendwer danach schreit, dass kurz einmal in Eigenregie abgewandert wird vom gewohnten Terrain, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt und korreliert meistens sehr stark mit den offensichtlichen oder auch nur vermuteten Fähigkeiten der jeweiligen Künstlerin. Im Falle von Hayley Williams stellte man nach einem Jahrzehnt an der Spitze von Paramore fest, dass die Frau gehörig was drauf hat, in Anbetracht der klar sichtbaren Schwächen der Band mehr ginge und zog den Schluss, sie als Solistin, das hätte schon was. Mit dem Wunsch kommen aber auch Erwartungen, wie das dann zu klingen hätte, wenn sie denn würde. Im Lichte dieser Erwartungen schafft es "Petals For Armor" gleichzeitig eine Bestätigung und eine kleine Enttäuschung zu sein.
In jedem Fall ist es stilistisch nicht unbedingt das, was so die Vorstellungskraft vorab hergegeben hätte. Zwar haben bereits Paramore eine mehrfache Wandlung hingelegt und damit klanglich überrascht, trotz durchwachsener Bilanz durchaus auch positiv, aber was Williams hier liefert, ist dennoch nicht unbedingt eine logische Folge dessen. Sicher ist, dass die zur Schau gestellte Vielseitigkeit der US-Amerikanerin nicht schockiert. Dass sie sich jedoch gleichermaßen auf dem Puls der mainstreamigen Zeit und dann doch wieder in verschroben individuellen Sphären abspielt, die es je nach Track schafft, einem St. Vincent, Chvrches, Madonna, Lorde und noch ganz andere ins Gedächtnis zu rufen, lag kaum auf der Hand. Es gelingt ihr der Spagat zwischen dem spannungsgeladenen, mysteriösen Opener Simmer und dessen funkigem Bass und rastloser Percussion, dem locker-dynamischen, lasziven Dance-Pop von Sugar On The Rim, dem glitzernden R&B-Pop von Pure Love und der erratisch-schrägen Soundcollage Cinnamon. Und da wird nur die Spitze des Eisbergs beschrieben. An fehlender Wandelbarkeit und der Fähigkeit dazu, sich recht mühelos diesem neu gefundenen Sound anzupassen, fehlt es damit schon einmal nicht.
Woran es mangelt, ist wohl die fehlende Eindeutigkeit des Ganzen. Williams spielt das gesamte Album über mit atmosphärischen Ansätzen, mit vermeintlicher Verletzlichkeit und offener Emotion, gleichzeitig mit vereinzelter klanglicher Abenteuerlust, der Verbindung von Rock und Synth-Pop mit so manch Nebeneinfluss, vereinzelt aber auch mit ihrem beeindruckenden Feingefühl für unwiderstehliche Hooks. Allein, nichts davon passiert konsequent genug, um der LP einen roten Faden, eine einheitliche Marschrichtung oder auch nur den Killerinstinkt für einzelne Volltreffer zu geben. Minute für Minute spürt man mehr, dass das Gemisch auf Stil- und Gefühlsebene eben zu viel Gemisch und zu wenig reiner Wein ist.
Deswegen funktionieren weder an Madonna erinnernde Atmosphäre-Happen wie das düster sphärische My Friend, dem die überpräsenten Drums und der lautstarke stimmliche Ausbruch im Refrain nicht gut stehen, die zu hektisch und hohl wirkende R&B-Einlage Taken oder das zwischen halbem Rap und fast schon pastoralen, schleppenden Refrains wechselnde Crystal Clear . Eine spürbare, aber moderate Faszination gegenüber dem zusammengesetzten Soundpuzzle macht sich vielleicht breit, mehr bleibt einem aber nicht im Gedächtnis, jedenfalls nicht positiv. Die uneindeutige Mixtur lässt zumindest in ihrer schlechtesten Form Emotion, Spannung und Spaß abhandenkommen.
Meist ist es aber ein ambivalenteres Urteil, bei dem man diese Dinge durchaus spürt, aber diese sich unweigerlich gegenseitig in die Quere kommen. Watch Me While I Bloom gibt sich beispielsweise anfangs elektronisch minimalistisch und beinahe im Björk'schen Sinne mysteriös, zweigt aber dann doch ab in Richtung eines Elektro-Pop, der zwar seine melodischen Qualitäten hat, aber weder mit den eingeflochtenen, wiederum abgebremsten und langgezogenen Passagen zurechtkommt, noch ein atmosphärisch schlüssiges Bild ergibt. Das ändert nichts an der Qualität der Einzelteile, an Williams' Fähigkeit, all das gut klingen zu lassen, aber es verhindert jegliche Begeisterung oder emotionale Eindringlichkeit. Ähnlich verhält es sich mit Dead Horse, das mit einer coolen Hook hausieren geht, das Drumherum aber reichlich störrisch gestaltet und zerfahren erscheint.
Zwei Elemente des Albums helfen jedoch, auch diesen Tracks eine letztlich überzeugende, charmante Seite zu verleihen und darüber hinaus so manch anderen Song zu einem wirklich starken zu machen: Einerseits die detailverliebte Präzision, die einem verdammt viel an zu entdeckenden klanglichen Eindrücken liefert und selbst die konträrsten Stimmungslagen und Stilübungen reibunglos ineinander greifen lässt, auch wenn sie sich in ihrer Tiefenwirkung behindern. Andererseits natürlich Williams' Stimme, die schon vorher über die meisten Zweifel erhaben war und sich hier als vielseitiger und verführerischer denn je erweist, weil sie von offener, zerbrechlicher Emotionalität über angespannte Angriffigkeit, hektischer Hyperaktivität und geschmeidiger Coolness alles transportieren kann.
Mit diesen Qualitäten zieht einen Opener Simmer schon vom im Intro zu hörenden Hauchen in seinen gespenstischen Bann, reißt einen die chaotisch anmutende Stimmakrobatik und -manipulation von Cinnamon mit und berührt einen das gefühlvoll-dramatische Roses/Lotus/Violet/Iris. Allen ist etwas gemein, das an anderer Stelle fehlt, nämlich eine atmosphärische und klangliche Klarheit, die einen nicht ohne überraschende Eindrücke lässt, gleichzeitig aber komplette Stilbrüche vermeidet. Genauso macht das auch der wohl gelungenste Track des Albums, das großartige Sugar On The Rim. Dessen melodische Qualitäten in Verbindung mit dem an Madonnas 90er-Höhepunkte erinnernden kantig-harten und doch dynamischen und sphärischen Elektronik-Pop sind eine rundum gewinnende Mischung, die mit einer wunderbar unterkühlten Performance von Williams garniert wird.
Dass es doch auch weniger eindeutig geht, beweist sie immerhin zwei Mal. Sudden Desire und Over Yet schießen zwei deutliche Löcher in die obige Argumentation gegen die stilistische Zerrissenheit der versammelten Songs. Beide konfrontieren einen mit radikalen musikalischen Brüchen in ihren Refrains, ohne dadurch an atmosphärischer Eindringlichkeit oder Eingängigkeit zu verlieren. Im Falle von Sudden Desire ist es der plötzliche Bruch mit den eigentlich so herbeigesehnten, ruhigen und gesangslastigen Strophen, die nur minimalistische von Drums und Bass begleitet werden und ohne Vorwarnung in einem lauten, dröhnenden und von programmierten Drums durchzogenen Refrain aufgehen. Over Yet besticht dagegen als skurrile Kombination aus pulsierenden basslastigen Elektronik-Strophen, deren abgehackter, auf Percussion fokussierter Sound auf Williams' Sprechgesang trifft, und einem schillernden Synth-Pop-Refrain, der direkt aus den 80ern zu kommen scheint. Beides funktioniert auch und gerade wegen dieses stilistischen Kontrasts.
Dennoch sind es Einzelbeispiele auf einem Album, dem seine Ambition und seine Vielseitigkeit zumindest ein wenig zum Verhängnis werden. "Petals For Armor" ist nie und nimmer ein schlechtes Album, immerhin steckt es voller musikalischer und gesanglicher Qualität. Aber es ist eine LP, die von mangelndem stilistischem Fokus und sich unvorteilhaft vermengenden Botschaften gekennzeichnet ist. Viele Tracks finden weder klanglich noch atmosphärisch einen gemeinsamen Nenner oder lassen die Kompromisslosigkeit, mit der etwas wie Sugar On The Rim daherkommt, vermissen. Deswegen ist das eine schwierige Angelegenheit. Eine, die einen häufig mit starken Ideen und Ansätzen beschenkt, aber kaum einmal daran denkt, diese so weit durchzuziehen, dass man damit wirklich glücklich werden könnte. Weswegen man fast unweigerlich zu dem Schluss kommen muss, dass Hayley Williams hier eher einmal mehr ihr großes Potenzial unter Beweis gestellt hat, als dass sie dieses wirklich voll zur Entfaltung gebracht hätte. Und man wird sich wohl nie so ganz sicher sein können, ob das wirklich das Album ist, das man von ihr hören wollte, oder ob sich ihre Stimme und ihre textlichen Qualitäten nicht doch ein akustisches Setting rund um Gitarre und Klavier eher verdient hätten. Man weiß es nicht, zumindest nicht bis irgendwann wieder Selbstverwirklichung angesagt ist.