von Mathias Haden, 24.10.2013
Der erste Meilenstein des klassischen Line-Ups und die Blaupause für zukünftige Großtaten.
Bei dem Begriff 'Progressive Rock', oder vereinfacht nur Prog Rock, geraten Musikliebhaber jenseits der 40 gerne ins Schwärmen. Was sich schon auf einigen Veröffentlichungen britischer Rockbands Ende der Sechziger angedeutet hatte, wurde in den Siebzigern zu einer der beliebtesten und erfolgreichsten Musik-Gattungen. Neben Yes, Jethro Tull oder King Crimson zählten auch Genesis zu den Pionieren dieses Subgenres der Rock- und Popmusik. Die Band rund um Vordenker Peter Gabriel hatte sich zu Beginn des neuen Jahrzehnts von seinen frühen Folkklängen verabschiedet und war bedacht darauf, ihre wahnwitzigen Fantasiegeschichten in von Tempowechseln dominierte und mit allerlei Instrumenten gespickte Lieder zu packen. Mit dem dritten Album, Nursery Cryme, wurde einerseits dieses Konzept weiterverfolgt, andererseits folgte vor den Aufnahmen ein grundlegender Umbruch, der alles verändern sollte.
So kam es, dass die heute geschätzten Phil Collins und Steve Hackett als Drummer (das mit dem Frontmann kam erst später) bzw. Gitarrist beitraten und die alten Mitglieder ersetzten. Das Line-Up bestand nun aus Gabriel, Hackett, Rutherford, Banks und Collins. Damals ein blutjunger Haufen von gerade 20-jährigen, wussten sie wohl nicht, welchen so wichtigen Schritt sie in ihrer Karriere gerade beschreiten würden. Das Album erschien schließlich Ende 1971 und stieß auf kaum Resonanz (Erst drei Jahre später erfolgte der Charteinstieg: #39 in den UK). Unmittelbare Kritiken fielen zwar eher mäßig aus, dennoch wurde hier ein bedeutender Meilenstein für die kommenden Jahre gelegt, die Blaupause für die Großtaten der Gabriel-Ära.
Warum das so ist, dürfte hier schnell klar sein. Über jeden der sieben Tracks könnte man an dieser Stelle eigentlich munter drauf losschreiben und seine eigenen Interpretationen preisgeben. Clevere Texte und komplexe Instrumentierungen harmonieren beinahe so gut, wie auf den nachfolgenden Werken der Band.
Opener The Musical Box etwa ist unter Fans mittlerweile einer der absoluten Lieblinge und dient als Namensgeber einer bekannten Tribute-Band. Dieser handelt von dem Schicksal eines britischen Adelsmädchen, das beim Cricketspiel "sweet-smiling" den Kopf ihres Bruders mit dem Schläger abschlägt und Wochen später eine Spieldose in dessen Kinderzimmer entdeckt und sie schließlich öffnet. Aus dieser erscheint plötzlich der Geist des Verstorbenen. Der wiederum altert in rasanter Geschwindigkeit und die gesammelten Gelüste eines Lebens sprudeln in ihm hoch. Um vor dem Ableben noch eine besondere Erfahrung zu machen, versucht er seine ehemalige Schwester zu sexuellen Abenteuern zu überreden und sie gefügig zu machen. Der in dieser Konfrontation unvermeidliche Lärm schreckt aber das Kindermädchen auf, das sich vor der bärtigen Erscheinung des Jungen fürchtet und die Spieldose auf jenen wirft und beide so zerstört.
Soviel zu diesem einen Song. So verstörend die geniale Geschichte sein mag, so unfassbar der Gedanke, den 20-, 21-jährigen Gabriel beim Verfassen dieses Textes vor sich zu sehen.
Hinter dem wahrlich großen Opener brauchen sich die nachfolgenden Tracks nicht verstecken. Bemerkenswerte Momente gibt es genug. Und das, auch ohne jeden einzelnen Track zu einem 8-Minuten-Epos zu formen. Songs wie Harold the Barrel, das zwar mit einem der schwachsinnigsten Titeln, aber mit erquickend schwarzem, britischem Humor und einem interessanten Text (Selbstmord von einer Fensterbank und die letzte Diskussion mit dem Auflauf der Schaulustigen) aufwarten kann, geben dem Album eine erfreuliche Abwechslung zu den ambitionierteren Blockbustern.
Den Höhepunkt muss aber einfach der wohlplatzierte Closer The Fountain Of Salmacis bilden, der die griechische Sage der Nymphe Salmacis und des Hermaphroditus spannender erzählt, als es jedes Sagenbuch zu beschreiben vermag. Die laut/leise-Abwechslungen (mag es geplant sein oder einfach der lausigen Produktion geschuldet sein) geben dem Song dazu noch einen angenehmen, mysteriösen Beigeschmack.
Dazu noch das oftmals zu Unrecht unterschätzte Harlequin, das oftmals etwas überschätzte The Return Of The Giant Hogweed, dessen psychedelischer Text (der Name verrät schon alles) dann doch ein bisschen zu viel sein dürfte und das schöne, mit Gabriels entspannendem Flötespiel untermalten, Seven Stones. Abgerundet wird das zu guter Letzt noch vom ersten Kurzeinsatz Collins' auf dem braven For Absent Friends.
Was Nursery Cryme zu so einem schönen Album macht, ist sicher das eigenwillige Songwriting und die von Gabriel gewohnt aufopfernd vorgetragenen Rollen, für die er in seinen Songs im wahrsten Sinne des Wortes diesmal stirbt.
Während das Zusammenspiel in den folgenden Jahren sicher noch ein deutlich höheres Level gewinnt, ist es hauptsächlich die grottige Produktion, an der man sich ungemein stört und die gehörig auf die Euphoriebremse drückt. Während besonders im Opener der Lautstärkeunterschied zwischen 'kaum hörbar' bis zu 'polternd laut' schwankt, klingen auch die Instrumente und Gabriels Gesang oft sehr dumpf und eher wie raue Demoaufnahmen. Das wurde später, Gott sei es gedankt, um einiges besser.
Peter Gabriel war seiner Zeit stets voraus. Sowohl mit seiner Band Genesis als auch später während seiner Solokarriere. Er, der sich auf der Bühne stets hinter Verkleidungen versteckte, um während des aktuell gespielten Songs die Charaktere seiner Lieder zu spielen und auch die Stimmen verstellte. Auf dem dritten Album der Band, dem ersten in der klassischen Bandbesetzung, zeigt er deutlich, was für ein guter Erzähler und Dichter er ist. Auch die anderen Mitglieder, alles großartige und einflussreiche Musiker geben hier eine gelungene Talentprobe ab. Ob es jetzt Banks traumhafter Mellotroneinsatz in The Fountain Of Salmacis oder Hacketts präsente Leadgitarre ist, jeder hat hier seine Momente.
So rufen Genesis auf Nursery Cryme noch nicht zu 100% ihr Potenzial ab. Die Richtung ist aber klar, und so sollte es nicht mehr lange dauern bis sie sich zu den unumstrittenen Anwärtern des Prog-Olymps zählen durften. So sind die Seufzer der älteren Semester beim Thema Progressive Rock dann gar nicht mal so unberechtigt. "I heard the old man tell his tale..."