von Mathias Haden & Kristoffer Leitgeb, 04.09.2014
Großer Pop und misslungene Experimente - die kommerzielle Sternstunde eines britischen Trios.
Nachdem sich Phil Collins ein Jahr vorher weltweit an die Spitze der Charts gehievt hat, schlägt 1986 die große Stunde von Genesis. Mit einer LP, die so sehr polarisiert. Denn Genesis, das heißt Prog. Und so beschissen man diesen Begriff auch finden kann, er steht ziemlich konträr zu dem, was das 1986 erschienene Album zu bieten hat. Denn Invisible Touch, das heißt Pop. Und das in seiner beinahe reinsten Form. Lange und steinig war der Weg, sich nach und nach aller Elemente vom ehemals praktizierten, komplexeren Handwerk zu entledigen. Statt raschen Tempowechseln, anspruchsvollen Sequenzen (die live nicht auszuführen waren) und epischen Texten heißt das im konkreten Fall wieder mal vermehrte Keyboards und einen selten so präsent gewesenen Tony Banks.
Veränderungen gehören schließlich zum Leben. Und so sollte man Collins, Rutherford und Banks nicht länger grämen und seine zwar nicht gänzlich unberechtigten, aber über die Jahre zu inflationär geschossenen Pfeile in Form von Ausverkaufsanschuldigungen langsam im Köcher lassen. Denn Invisible Touch tut einiges, um uns seine Vorzüge schmackhaft zu machen. Zum einen sicherlich die gelungenen Singles, die das Leben der drei Jungs auf alle Zeiten ziemlich bequem machen sollten. Land Of Confusion fällt einem da spontan ein. Kein Wunder, wird dieser großartige Pop-Song mitsamt seiner soziopolitischen Kritik und seinem Jahrhundertvideo auch bald dreißig Jahre später noch gerne im Radio gehört. Nicht zu verachten auch der Titeltrack, der einmal aufs Neue zeigt, dass man keine komplizierten Arrangements benötigt, um feine Songs aus dem Hut zu zaubern. Simple Drums, einfache Bass-Line; dazu ein eingängiger Refrain, ordentlich Pfeffer dahinter und die Sache läuft von selbst.
Auch abseits der immer stärker pulsierenden Pop-Sensibilität läuft die Hitmaschine Genesis. Und obwohl der größte Prog-Moment Domino nicht an alte Gassenhauer wie The Musical Box oder One For The Vine heranreicht, ist es dennoch schön zu sehen, dass die Briten ihre Wurzeln nicht gänzlich hinter dicken Pfundnoten aus den Augen verloren haben. Sehr ambitioniert, aber nicht immer optimal umgesetzt kommt dieser 10 Minuten-Wälzer angerauscht, verdeutlicht erneut die gestiegene Wichtigkeit Banks.
Weniger erfreulich sieht es mit der anderen überlangen Nummer Tonight, Tonight, Tonight aus. Dass die Band sich mit Balladen leicht tut - da dürfte mir mein Kollege vehement widersprechen und ich kann es kaum erwarten -, zeigen die auf der LP vertretenen Throwing It All Away und das wunderbar berührende In Too Deep (der schönste Lovesong der 80er, oder wie war das Patrick Bateman ['American Psycho'] ?). Aber dieser ewiglange, monotone Koloss? No way. Das gilt im Übrigen auch für den überflüssigen Instrumentalcloser The Brazillian.
Die Redezeit wird knapp, darum halte ich mein Plädoyer kurz. Invisible Touch hat seine Stärken, seine großen Pop-Songs und starken Balladen. Auf der anderen Seite aber auch misslungene Experimente, vor allem jenseits der 5-Minutengrenze wird es haarig. Dennoch, das Gesamturteil ist positiv und das Album zu Unrecht verunglimpft. Eine LP, die so sehr polarisiert, so sehr nach Collins riecht und trotzdem auch als Bandkreation Spaß macht. Nur nicht auf allen Ebenen.
M-Rating: 6.5 / 10
Hinter dem geschassten Pop versteckt sich ein bis dahin ungekanntes Genesis-Motto: Just have fun with it!
Wer eine passende Eröffnung von mir will, muss sich bitte zum Review von Metallicas "Load" begeben, die passt nämlich hier perfekt. Ob's damals Morddrohungen an Collins gab, allesamt von erzürnten Genesis-Veteranen - eine vielleicht von der Ex-Frau -, man weiß es nicht, möglich scheint's aber. Millionenverkäufe mit Synthie-Pop, das ist Verrat der übelsten Sorte. Aber....ach so wohlklingender Verrat.
Denn seien wir mal ehrlich. Wer hat denn jemals begeistert bei Supper's Ready die vollen 23 Minuten mitgesungen? Ich gratuliere jedem, der das geschafft hat, begnüge mich aber mit leichterer Kost, zum Beispiel den Welthits Invisible Touch und Land Of Confusion. Der Kollege hat's ja eh schon gesagt, hier ist Einfachheit Trumpf und das sorgt für Erinnerungen an das beeindruckend nachdenkliche "Su-su-Suddio" aus dem Vorjahr, aber eben auch für wochenlange Ohrwürmer, die einem überraschenderweise aber doch nie ganz aus dem Hals raushängen. Vielleicht wegen Tony Banks, der eben wieder mal den musikalischen Hauptdarsteller markieren darf, vielleicht aber auch nur, weil man nie so sehr das Gefühl hatte, dass Genesis auch einfach 'Spaß haben' bedeuten könnte. Locker flockig geht's also entlang.
Damit hört sich's abrupt auf, wenn Tonight, Tonight, Tonight einsetzt. Ein Schelm, wer an ein Phil Collins-Solo denkt. Viel gibt's aber wirklich nicht, höchstens Rutherfords kurze Qualitätsdarbietung gegen Ende sticht heraus, ansonsten ist es Mr. Pop im Alleingang. Nicht sehr spektakulär, doch routiniert und in einer Form, die ihn durchaus in ein gutes Licht rückt, wenn es um emotionale, unheilschwangere Auftritte geht. In der Hälfte der Zeit wäre das wohl auch geschafft gewesen, die Konkurrenz in Form von In Too Deep und Throwing It All Away sticht er aber trotzdem aus. Die verbinden nämlich Collins' Fähigkeit, dem Begriff Schnulzenheini gerecht zu werden, und das zumindest mir bisher verborgen gebliebenen Phänomen, dass sich die Band "mit Balladen leicht tut." Da steh' ich am Schlauch, wenn es an die Ergründung dieser Phrase geht, zumindest wenn ich das 80er-Material zu Rate ziehe.
Sei's, wie's sei, in puncto Domino können wir uns dafür die Hand geben. Nette kleine Spielereien, die Banks ins Rampenlicht schmeißen, ihm mit dem atmosphärischen ersten Part und der Up-Beat-Fortsetzung viel abverlangen. Beides langatmig, wird aber vor allem dank des genialen Übergangs mitsamt Collins' flehentlichem Gesang zu einem positiven Ende gebracht. Da verzeiht man es ihnen auch, dass Textliches nur mit Decoder-Ring zu entziffern scheint. Besser geht's beim starken Pop von Anything She Does, der den eingängigen Beginn noch einmal ordentlich Revue passieren lässt.
Mangelerscheinungen hat die LP aber trotz allem. Zu viel Leerläufe erlaubt man sich auf gerade neun Tracks, was zu dem Schluss führt, dass hinter "Invisible Touch" doch nur Collins alleine steckt. Denn die einschläfernd-kitschigen Balladen und die überambitionierten Versuche, nur ja nicht unter acht Minuten zu bleiben, sind zu offensichtliche Parallelen zum Solo-Programm des Briten. Was bleibt, sind starker Synthie-Pop, mit Land Of Confusion ihr bester Auftritt in den 80ern abseits von Duke's Travels und ein Trio, das eher dem Spaß verpflichtet scheint als der Prog-verliebten Fangemeinde - gegönnt sei es ihnen.
K-Rating: 6.5 / 10