von Kristoffer Leitgeb, 31.10.2013
Der endgültige Abschied vom Prog Rock wird zum Beweis dafür, dass die Band keineswegs nur dort Stärken hat.
Es kann ja so schief gehen, wenn man als Band den guten Ruf, den man unter Musik-Kennern genießt, mit einem radikalen Stilwechsel aufs Spiel setzt. Aber Veränderungen gehören zum Leben und so gehört es sich auch nicht für Musiker, die etwas auf sich halten, ihre gesamte Karriere über nur in einem Genre-Biotop herumzuschwimmen. Noch viel dringender wird dieser Anspruch, wenn einem so zwischendurch die wichtigsten, weil stilprägendsten Mitglieder verloren gehen, um Solo durchzustarten. So geschehen bei den Prog Rock-Helden - gut, damals noch nicht heldenhaft verehrt - von Genesis. Nach dem Abgang von Peter Gabriel und Steve Hackett war ein Richtungsschwenk fast unumgänglich, vor allem mit dem nunmehrigen Sänger Phil Collins, der doch so gar nicht mit den komplexen Epen der früheren Genesis-Zeit harmoniert. Und so brachten die 80er den Briten vor allem eines: den Synth-Pop. Ein radikaler Schnitt, der in "Abacab" am offensichtlichsten wird. Es erwarten einen ausgefeilte Song-Strukturen, eine Ausnahmeleistung von Keyboarder Tony Banks und der Beweis dafür, dass Genesis auf keinen Fall nur im Prog ihre Stärken haben.
Wobei dann doch irgendwie schon. Aber auch wieder nicht. Ach, ich weiß es auch nicht. "Abacab" ist, qualitativ und musikalisch, nicht Fisch und nicht Fleisch. Musikalisch ist die Spannweite beinahe unangenehm groß, reicht von im New Wave-Stil gehaltenen Prog Rock-Resten wie Dodo/Lurker bis zu charakterlosen Pop-Minuten der Marke Collins. So präsentiert sich einem hier eine merkwürdige Mischung an Stilen, die das Bild einer im Umbruch befindlichen Gruppe zeichnet. Ähnlich schaut's auch mit der Qualität aus. Während sich nämlich zumindest kurzzeitig Anflüge von Genialität zeigen, beweist die Band mit Like It Or Not auch, wie's nicht gehen sollte.
Werfen wir uns also hinein in dieses Gewirr. Wenn einem eines sofort ins Auge sticht, viel mehr aber noch ins Ohr fährt, dann die alles überstrahlende Leistung von Tony Banks. Denn was der Band durch den Abgang von Gitarrist Steve Hackett im Jahr 1977 verloren gegangen ist, macht er hier doch zumindest zum Großteil wieder wett. Vor allem in den längeren Tracks bleiben so Momente im Gedächtnis, die vor allem ihm zu verdanken sind. Schon dem Opener, gleichzeitig Titeltrack, verleiht er mit den schrägen Tönen seines Keyboards eine eigene Dynamik, die sich über Songs wie Keep It Dark oder dem epischen Dodo/Lurker weiterzieht. Zu verdanken ist das aber zu einem guten Teil auch Phil Collins und Mike Rutherford, die mit ihrer zurückhaltenden Rhythm Section wenig Aufriss machen und so genug Platz lassen für Tony 'Mr. Keyboard' Banks. Den Höhepunkt erreicht diese Performance im merkwürdigen Me And Sarah Jane, in dem in der dritten Minute so etwas wie Perfektion gelingt. Leider nur dort, allerdings reicht das zumindest, um Collins' schräg humorvolle Zeilen über die erfundene Freundin grandios auszuleuchten.
Collins selbst, damals schon als Solo-Star in aller Munde, scheint hier auch der eindeutige Leitwolf zu sein. Denn auch wenn man in puncto Musik wenig vom Drummer mitbekommt, wirkt die Musik beinahe durchgehend auf den Sänger zugeschnitten. Am augenscheinlichsten wird das in der großartigen Elektronik-Ballade Man On The Corner, mit der düsteren Obdachlosen-Thematik ein früher Vorläufer von Another Day In Paradise. Dort bietet er überhaupt eine seiner besten gesanglichen Vorstellungen, wird eindrucksvoll vom dreispurigen Keyboard-Sound und, wie schon bei In The Air Tonight, erst gegen Ende auch von seinen eigenen Drum-Parts begleitet. Übertroffen wird dieser Track zwar nicht, zumindest Collins kann sich allerdings im siebeneinhalb-minütigen Dodo/Lurker mit einigen markanten Stimmwechseln über die Gesamtdauer noch einmal steigern.
Sein großer Einfluss auf die Band wird allerdings auch und gerade in den schwächeren Momenten sehr offensichtlich. Egal, ob das durchschnittliche No Reply At All, das mit Collins-üblichen Bläser-Sätzen aufwartet, die träge gitarrenlastigere Ballade Like It Or Not oder der humorfreie Abschluss in Form von Another Record. Allesamt zeigen sie poppigste Langeweile, wie sie dem Frontmann auch solo ab und an passiert ist. Dort dominieren träges Tempo, wenig eigener Charakter und uninspirierte Einlagen von Banks, Collins und Rutherford, der aber ohnehin abseits vom Gitarren-Part im Titelsong kaum wahrnehmbar ist. Jetzt wären diese drei Tracks noch kein zwingendes Problem, würde sich die Gesamtzahl der Songs nicht auf gerade einmal neun beschränken. So fallen die gleich doppelt ins Gewicht, vor allem, da sie von Who Dunnit noch tatkräftigst unterstützt werden. Diese unrühmlichen Minuten haben sogar so weit geführt, dass die Band bei einem Live-Auftritt dafür ausgebuht wurde. Und tatsächlich sind die kuriose Kombination von banalen Drum Machine-Klängen mit eher bizarren Keyboard-Sounds und Collins' pseudo-witziger Stimmeinsatz eher eine Zumutung als eine wirkliche humorvolle Abwechslung.
Vor allem, weil "Abacab" schon so genug Grund zum Schmunzeln in sich birgt. Denn textlich schafft die Band tatsächlich ohne die geringste Mühe den Spagat vom ernsten, nachdenklichen Ton in Man On The Corner hin zu lyrischen Späßen wie: "Seems he met up with a gang of thieves / Who mistook him for a man of means / They locked him up then found he had no money / So they let him go again" als eher ungewöhnliche Beschreibung für eine Entführung durch Außerirdische. Oder aber die bereits erwähnte imaginäre Freundin in Me And Sarah Jane, die wie folgt entsteht: "And now I'm standing on a corner, waiting in the rain / But then in sunlight without warning, I invent a name / Me and Sarah Jane, we had a special thing going". Und ganz oben auf der Liste steht Dodo/Lurker, dessen surrealer Text einem auf eindrucksvolle Weise zeigt, wie nahe tiefgründige Zeilen und plumper Nonsens beieinander liegen können. Ich traue mich da nicht zu beurteilen, was es letztlich wirklich ist.
Also doch kein Flop, dieser unorthodoxe Ausflug in fremde Gefilde. "Abacab" zeigt eine Band, die Spaß hat, Neues ausprobiert und bei Zeiten auch sehr gut damit fährt. Die Fehler wiegen allerdings durchaus schwer, vor allem, weil sie doch allzu offensichtlich sind. So bleibt einem eine LP, über die ein Urteil zu fällen schwer scheint. Mögen will man es, loben eher weniger. Das Talent ist ihnen seit dem Vorgänger sicher nicht verloren gegangen, vielleicht aber etwas der Fokus darauf, was sie denn nun eigentlich wollen. Trotzdem, 'Genesis goes Pop' ist kein einziger Misserfolg.