von Kristoffer Leitgeb, 01.05.2020
Geerdeter Americana-Folk mit dem Herz auf der Zunge und der dafür nötigen stimmlichen Brillanz.
Würde man nach dem Zentrum von Folk, Country-Rock und allem, was sich mit Americana verbinden lässt, suchen, kaum käme man auf die Idee, es in Washington zu tun. Weitläufige Wälder, Steppen und der Status als einer der Farmstaaten schlechthin ändern daran wenig. Vielleicht, aber nur vielleicht hat das mit der Existenz von Seattle dort oben im Nordwesten der USA zu tun. Von dort ausgehend wurde spätestens beginnend mit dem Jahr 1991 sehr viel dafür getan, dass man Washington hauptsächlich mit Metal, Punk und Grunge, Grunge, Grunge in Verbindung bringt. Naturgemäß bedeutet das, dass andere große Namen ein bisschen unter den Tisch fallen, sodass wohl erst beim zweiten Gedanken Namen wie Brandi Carlile, Neko Case oder Fleet Foxes und damit ja doch ein paar führende Figuren im Americana-, Alt Country- und Folk-Sektor des neuen Jahrtausends auftauchen. Selbst damit im Hinterkopf käme allerdings niemand auf die Idee, dafür nach Snohomish zu blicken. Das liegt daran, dass wir es dabei mit einem Städtchen in der Größenordnung von Fürstenfeld oder Gerasdorf zu tun haben, das an und für sich nicht weiter auffällt. Dank Fretland könnte das bald weit über die Grenzen Washingtons hinweg anders ausschauen. Vielleicht greift das aktuell noch etwas zu weit vor, das self-titled Debüt der Band lädt aber dazu ein, mit dem Lob ein bisschen über das Ziel hinauszuschießen.
"Schönes Album, absolut!" Nicht mein Satz, sondern der des werten MusicManiac-Kollegen, der zwar aktuell mit einer exzessiven Rückschau auf die Ramones beschäftigt ist, sich aber trotzdem zu einem kurzen Urteil hat hinreißen lassen. "Wie First Aid Kit ohne große Pop-Melodien." Was so nur teilweise unterschrieben werden kann. Die stilistische Nähe ist nicht zu leugnen, aus dem mitreißenden Opener und Leadsingle Long Haul spricht ein bisschen It's A Shame der Schwedinnen, allerdings ohne deren aufpoliertere und dezent xtravagantere musikalische Aufmachung. Also doch weniger My Silver Lining und mehr Neko Case' Hold On, Hold On, hält man sich strikt an den von bewährten Studiokräften aus ebenderen Dunstkreis zu Tage geförderten Sound. Geerdet und naturbelassen klingen die Songs an, verlassen sich auf das nötige Volumen der Drums, schallend kratzige Riffs, akustische Akkorde und gekonnt eingestreute Parts an der Pedal Steel Guitar. Darüber findet man aber eben nicht nur die ähnlich erdige, verführerisch gefühlvolle Stimme von Frontfrau Hillary Grace Fretland, sondern auch die nötigen Hooks.
In den ersten, dank hymnischem Sound ein bisschen den Heartland Rock der 70er anvisierenden Minuten verstecken sich die mit Long Haul noch so ziemlich, unterliegen den geschmeidig dahinschwebenden Vocals und stetig anschwellendem, in einem ausgedehnten Instrumental mündenden Aufbau. Danach bekommt man aber mit Friendly Fire, Hands und Have Another Beer gleich einen Dreierpack an Songs geliefert, deren Refrains man kaum entgehen kann. Damit einher geht ein langsamer Stimmungsumschwung, vom lockeren Country-Rock in Friendly Fire hin zum immer von den dahintrabenden Drums angetriebenen, aber ungleich melancholischeren Have Another Beer. Dessen gelungene Mischung aus eingängiger Melodie, Fretlands herausragender, von ihrer Schwester unterstützter Gesangsperformance und sehnsuchtsvoller Atmosphäre wird schnell zum Höhepunkt des Albums mitsamt großartigem Text und eindringlichem Refrain:
"Why, oh, why is it so damn hard
To touch the things I feel
Why, oh, why is it so damn hard
To fall in love around here
Why, oh, why can't I watch the sun
Set in my hemisphere"
Von diesem Beginn beflügelt, lässt die Band in der Folge nur selten aus. Im Gegenteil bekommt man alsbald mit dem ruhigen, auf die Akustikgitarre und das Klavier reduzierten Must've Been Wild den nächsten Treffer serviert. Der wird zu einer erneuten Demonstration der gesanglichen Stärke Fretlands und der vollendeten Harmonie mit ihrer Schwester Kara. Akzentuiert von dezenten Streichereinsätzen ergibt sich daraus ein berührendes Duett. Das ist auch Heaven, allerdings auf ganz andere Art: Hymnischer Country-Rock in klassischer Manier mit spärlich instrumentiertem Beginn, dem nach Fretlands Einstieg vereinzelte, langsam verhallende Gitarrenakkorde ihren Stempel aufdrücken. Daraus wird in über sechs Minuten eine zunehmend größere Szenerie, die musikalisch zwar immer noch auf die gewohnten Instrumente baut, daraus aber etwas Gospel-ähnliches macht, dem ein starkes Gitarrensolo mit beeindruckendem Stimmeinsatz dazu die Krone aufsetzt.
Schwachstellen kann man nichtsdestotrotz vereinzelt ausmachen. Garden bewegt sich als längster Track des Albums in ähnlichen Sphären wie Heaven, ist aber weder in seinen ruhigen, noch in seinen leidenschaftlich-lauten Passagen auch nur annähernd so überzeugend. Stattdessen strapaziert der ausgedehnte Song zunehmend die Geduld und verläuft sich in diesmal wirkungslos langgezogenen Gesangsparts. Black & Gold gibt sich weitaus dezenter, verzichtet für ein harmonisches Ganzes auf große Ausbrüche, wirkt aber gerade damit auch im Vergleich relativ blass. Da ist weder die imposante Größe von Heaven, noch der hoffnungsfrohe Pop-Appeal von Long Haul noch der gefühlvoll-berührende Anklang von Must've Been Wild. Stattdessen hört man eine melodisch wenig nachhallende Standardübung, aus der lediglich der einmal mehr starke Gesangspart heraussticht.
Verschmerzbare Rückschlage auf einem Debüt, das so viel musikalische Harmonie aller Beteiligten beweist, so viel atmosphärisches Liedgut anbietet, ein lyrisch und gesanglich so überzeugende Frontfrau präsentiert und dieses Potenzial an der einen oder anderen Stelle auch zu wirklich herausragenden Songs formt. Natürlich offenbart "Fretland" auch ein paar Schrauben, an denen gedreht werden kann und sollte, um die qualitative Dichte noch etwas zu verstärken. Mit der ist man hier letztlich aber schon ausreichend gesegnet, sodass Fretland eine LP vorlegen, die einen genauso gut dazu einlädt, sich verträumt in die Songs fallenzulassen, wie es für berührend emotionale Momente und den einen oder anderen eingängigen Ohrwurm sorgt. Da bleiben wenige Wünsche offen und ein Plätzchen irgendwo neben den Fleet Foxes oder Neko Case im gemeinschaftlichen Gedächtnis Washingtons könnte gar nicht mal so weit weg sein.