von Kristoffer Leitgeb, 15.06.2019
Kontemplative Selbstfindung zwischen Religion, Philosophie und Rock-Allerlei. Oh, und Jägermeister!
Während man in Österreich in den 90ern meist tunlichst darauf geachtet hat, heimischen Musikern, insbesondere jenen, die der Mundart noch etwas abgewinnen könnten, möglichst wenig Platz zu bieten, war man in Deutschland durchaus offen für im Inland produziertes Liedgut. Oft genug in bedenklicher Form, immerhin gab es auch Blümchen oder Pur oder Oli P. oder Wolfgang Petry, aber das ist ja dann doch nicht alles. Die Toten Hosen waren zum Beispiel in diesen Jahren auch obenauf, erreichten ausgerechnet 1990 zum ersten Mal Platz 1 in Deutschland und eigentlich war von da an nicht mehr daran zu denken, dass ein Hosen-Album einmal nicht zig Wochen in den Charts verbringen würde. Und weil einige Jahre später mit einer im ganzen deutschsprachigen Raum ganz oben aufscheinenden Single nachgelegt wurde, konnte man in dem Moment ruhigen Gewissens von einem Karrierehöhepunkt sprechen. Geheißen hat er "Opium Fürs Volk" und er ist Teil einer natürlichen Entwicklung, die die Toten Hosen als eine der sich selbst treusten Rockbands manifestiert hat. Inklusive aller Stärken und Schwächen, die sich wohl nie und ganz sicher auch damals nicht anders präsentiert haben.
Insofern liegt es nahe, wie es das bei der Band um Campino so oft tut, auch dieses Album als ein für die Toten Hosen typisches zu bezeichnen. Eigentlich ist alles da, was es dafür braucht, auch wenn das realistisch betrachtet etwas mehr ist als in den 80ern. Qualitätive Zugewinne bedeutet das zwar nicht unbedingt, Mitte der 90ern war das Quartett aber an einem Punkt angelangt, wo man trotz genretypischer instrumenteller Ausstattung von wirklicher Vielfalt im Sound sprechen konnte. Verbunden mit einer textlichen Ernsthaftigkeit, die sich selten davor so deutlich manifestiert hat, ist das schon einiges wert. Was wiederum nichts daran ändert, dass man sich schon nach dem pastoralen Choral zu Beginn, dem unheilvollen Vaterunser, umgehend in Songs wiederfindet, die die Unzulänglichkeiten der Band sehr offen darlegen. Mensch und Die Fliege sind eigentlich gar keine schlechten Rocksongs, der funkige Einfluss hier, ein Hauch von Jazz da sorgen für starke Akzente in den Strophen, damit die riffstarken Ausbrüche in den Refrains umso deutlicher werden. Aber es sind merkwürdige Texte, die Campino da anzubieten hat. Vage deutbar, aber unförmig und unmelodisch, dazu noch ohne auch nur ein wirklich prägnantes Wort. Dieser Nebel des gezwungen Nachdenklichen wabert durch das Album, was einem zumindest hier Schwierigkeiten bereitet, weil man insbesondere in Mensch das Potenzial zu einem wirklich großartigen Song sieht.
Nichtsdestoweniger gelingt es irgendwann doch, sich konkreter und bissiger zu präsentieren, den ernsten Tonfall auch auf manch ein Ziel zu richten, das sich als lohnender erweist. Ganz besonders trifft das hier die Religion, die sich oft genug direkt oder indirekt als Songthema manifestiert. Leadsingle Paradies rebelliert schon einmal treffend gegen die Fantasien eines redlichen Lebens, um irgendwann einmal nach dem Tod in die richtige Richtung zu wandern:
Dem begegnet man auch mit den harten Riffs von Nichts Bleibt Für Die Ewigkeit auf unbarmherzig kritische Art und definitiv am deutlichsten und effektivsten im musikalisch Richtung Heavy Metal abdriftenden Die Zehn Gebote, dessen drückende Schwere Campinos unheilvolle Rezitation der zehn Gebote und seiner Absage an diese bestens verstärkt. Es sind diese klanglich geradlinigen, schnörkellosen und kraftvollen Minuten, die einem am ehesten das Gefühl geben, die Band wäre voll auf der Höhe. Selbst wenn sie sich vielleicht gesanglich keinen Gefallen tut wie mit dem stumpfen Gegröle Und Wir Leben, bestärkt einen die starke Musik in dem Eindruck, dass da viel richtig läuft und die Band alles in die Songs hineinwirft. In Anbetracht der erschöpfenden Albumlänge hilft es da auch gewaltig, dass man sich hier mit dem Dudelsack behilft, an anderer Stelle die Mundharmonika eine Hauptrolle bekommt oder der frenetische Drogenrausch von XTC plakativ, aber energiegeladen mit Techno-Beat unterlegt wird. Kurzum: Es mangelt nicht an Abwechslung und den nötigen, wenn es darum geht, den harten Rock der Band in möglichst facettenreicher Form aufzubereiten.
Tatsächlich könnte man es sich sogar erlauben, jeden Song einzeln zu beschreiben, ohne dabei sonderlich zu Wiederholungen gezwungen zu sein. Selbst das, was Pop-Avancen hat und heute wohl als Alt-Rock klassifiziert würde, legt trotz gleichbleibendem Tempo und moderateren, leicht bluesigen Gitarrenklängen genug individuelle Züge an den Tag, dass man die Powerballade Der Froschkönig genauso gern mitnimmt wie das späte Viva La Revolution, das den Carpe-Diem-Gedanken treffend mit den Worten "Es gibt ein Leben vor dem Tod" einfängt. Gerade Der Froschkönig, dessen Laut-Leise-Wechsel eine latente Nähe zum Grunge bedeuten, erweist sich als rundum harmonischer, atmosphärischer und emotional starker Volltreffer.
Nun hat allerdings die Länge des Albums schon in einem Nebensatz Erwähnung gefunden und verbunden mit manch exzentrischem Ausritt in stilistisch fernes Terrain heißt das, dass es manche Minuten einfach überhaupt nicht braucht. Böser Wolf beispielsweise ist womöglich eine treffliche Metapher der beklemmendsten Sorte, die dank des Ska-Beats nur umso gruseliger wird. Letztlich ist es aber ein Klang, der sich verdammt mit allem, was sich drumherum ansammelt, spießt und in seiner Melange aus Reggae-Elementen, Spieluhr und Streichern einfach skurril anmutet. Ewig Währt Am Längsten ist im Gegensatz dazu zwar musikalisch durchaus geradlinig, das allerdings als Dub-Track auf die wohl ungebetenste denkbare Art. Ehemalige Punks, die plötzlich im Dub einsinken, gab es schon auf "Sandinista!" und es war auch da bereits entbehrlich. Den qualitativen Boden des Albums erreicht die Band dann jedoch mit Er Denkt, Sie Denkt, dessen Aneinanderreihung von Geschlechterklischees ein grausames Dasein dort fristet, wo man nicht weiß, ob man nun die Klischees persifliert oder einfach nur so unlustig ist. Beides haut nicht hin, speziell nicht mit diesem grässlichen, von Bläsern verstärkten Refrain.
Folglich ist es gut, dass am Ende noch Zehn Kleine Jägermeister wartet und einem beweist, dass die Toten Hosen sehr wohl mit Reggae-Rhythmen umgehen und dann sogar noch eine Mandoline einbauen können. Dass es da plötzlich alles andere als ernst zugeht, ist natürlich schon mit dem einleitenden Interview-Ausschnitt als Stichelei gegen alle zu verstehen, die die Band auf ihre Sauf- und Mitgrölhymnen reduzieren. Dass ausgerechnet daraus die für eineinhalb Jahrzehnte erfolgreichste Single der Band werden sollte, ist wiederum eine Ironie der feinsten Sorte, wenn sie auch nichts daran ändert, dass der Track einfach ein unterhaltsamer und erfrischend anders klingender Abschluss ist.
Willkommen ist dieser Abschluss auch, weil er nach über einer Stunde Spielzeit kommt, was dann doch etwas zu viel für eine LP der Hosen ist. In Anbetracht dessen, wie deutlich sich hier Spreu und Weizen unter den Songs erkennen lassen, scheint es etwas schade, dass die Band nicht selbst den einen oder anderen Rohrkrepierer oder Durchschnittssong fallen gelassen hat. Das ändert aber alles nichts daran, dass "Opium Fürs Volk" in vielerlei Hinsicht eine Rockband auf ihrem Zenit zeigt. Zuallererst natürlich trotz schmerzhaft weichgespültem Revival der letzten Jahre auf einem kommerziell, aber auch in puncto Prägnanz und inhaltlicher wie künstlerischer Vielfalt hat das Album viel zu bieten, für das sich die Zeit lohnt. Dass sich in all dem Campino immer noch als schwacher Texter präsentiert, gleichzeitig das Gitarristen-Duo über die meisten Zweifel erhaben ist und man es gekonnt versteht, hier und da andere klangliche Akzente in den harten Rock einzuflechten, ist beispielhaft für die ganze Karriere der Band. Mit einer guten Portion Schatten, aber auch einem Haufen Licht.