von Kristoffer Leitgeb, 15.11.2019
Die vollendete Vermählung von Dark Wave und Synth-Pop.
Die 80er waren musikalisch ein höchst bipolares Jahrzehnt, wie mir scheint. Hier die dramatische Oberflächlichkeit einer den Synthesizern erlegenen Popwelt und der daran angeknüpften Stadion-Rocker und Proponenten des Hair Metal. Größer, glatter, und kitschiger veranlagt, als man es sich je gewünscht hätte. Auf der anderen Seite eine im Untergrund schwelende Härte und Düsternis, die sich hart punkig, noch härter metallen, (wahlweise industrialisiert) elektronisch oder irgendwo dazwischen und mit dem Goth-Charme im Gepäck präsentiert. Nun scheinen das im ersten Moment unüberbrückbare Welten zu sein, die sich aber doch irgendwie gefunden haben, weil Freunde der tanzbaren elektronischen Musik durchaus auch in den dünkleren Ecken zu finden sind und damit wie etwa New Order irgendwann einmal eine Entwicklung genommen haben, die sie doch ziemlich poppig oder aber zumindest massentauglich hat werden lassen. Depeche Mode wiederum kamen aus der anderen Richtung, waren als Teen-Stars des UK bald einmal dem locker-leichten Synth-Pop entwachsen und sollten ihn weiterentwickeln in Richtung Industrial, Darkwave und irgendwann auch in rockigere Gefilde. Letzteres hatte in den 80ern noch wenig Platz, dafür glückte zum Abschluss die Perfektion dessen, was ein Jahrzehnt lang erarbeitet wurde.
"Music For The Masses" ist dementsprechend ein imposantes Amalgam des Synth-Pop und der mitunter gehörig düsteren, elektronischen Soundschwaden, die vor allem auf dem Vorgänger das Bild dominiert haben. Das hinterlässt die Briten in einer im ersten Moment schrägen Zwischenwelt, in der man sich der einen oder anderen genialen Hook erfreut und den Fuß nicht stillhalten kann, in der aber nichtsdestotrotz ein beklemmender Nebel über beinahe jedem Track hängt. Man könnte das mit einiger Leichtigkeit auf Martin Gores Texte zurückführen, die sich in bekannter Manier zwischen Sex, Selbstzweifeln, verworrenen Liebeswünschen und Drogen abspielen. Tatsächlich sind diese aber selbst bei einem sonoren Vortrag durch Dave Gahan eine Erscheinung, die erst auf den zweiten Blick in den Fokus rückt. Das Um und Auf sind dagegen die primär von Andy Fletcher und Gore geformten elektronischen Bauten, die sich ihrer starken Melodien und Beats sei Dank schnell ins Gedächtnis graben, dort aber mit dem unbequemen Beigeschmack düsterer Dissonanzen und treibenden Rhythmen der beklemmenden Art hängen bleiben.
Insofern ist man unterhalten und trotzdem atmosphärisch ummantelt und das von der ersten Sekunde an. Zu verdanken ist das der Tatsache, dass das Quartett mit Never Let Me Down Again einen ihrer besten, wenn nicht den besten Song ihrer Karriere zur Albumeröffnung heranzieht. Was mit flimmernden Synthesizern und melodischen Keys beginnt, vor allem aber auf einen deftigen Beat setzt und damit von Anfang an nichts zu verlieren hat, findet seinen triumphalen Höhepunkt in hymnischen Refrains, deren elektronische Begleitung majestätische Bläser und einen mächtigen Choral gleichermaßen imitiert und damit das lange Finale in epische Sphären bringt. Dass der Song letztlich das zumindest gewünschte Hochgefühl eines Drogentrips beschreiben soll, tut da nur mehr weniger zur Sache. Ähnlich ergeht es Strangelove, dessen sadomasochistische Fantasien an Master & Servant erinnern, dabei nicht ganz an dessen kantigen Industrial-Charme herankommen, dafür aber genauso wie der Opener Wunder wirken, wenn es um die Verbindung anregender Melodien und reichlich zwiespältiger Atmosphäre geht. Depeche Mode haben dabei Ende der 80er endgültig einen Punkt erreicht, an dem ihr Sound gleichermaßen unterkühlt und wärmend anmutet und dadurch nichts besser kann, als einen in einem Zustand ständiger Ambivalenz zurückzulassen. Die dritte Erfolgssingle und damit auch der dritte mit großartiger Hook gesegnete Track ist da noch der deutlich düsterste. Behind The Wheel bringt auch dank Gahans gespenstischem Gesang und den hypnotischen Synthesizern etwas Beunruhigendes im Thriller-Format mit, verstärkt durch die vagen textlichen Andeutungen, die der Interpretationsfreude viel Spielraum lassen.
Ergo hat man es definitiv mit einem Album zu tun, dessen Stärken die dichte, undurchdringliche Atmosphäre und deren selten einmal wirklich eindeutige Natur ist, was wiederum für Depeche Mode keine große Neuerung bedeutet. Neu ist lediglich die Stärke, mit der sie einem begegnet. Das liegt auch daran, dass die auf Albumlänge eher zähen, langsameren Stücke, die "Black Celebration" dominiert haben, hier besser verteilt und damit effektiver zum Einsatz gebracht werden. Deswegen versinkt man gerne in der zweifellos melodramatischen, synthetischen Soundwand von Little 15, die in ihrer orchestralen Machart, zwischen Streicherklängen, Klavier und wuchtiger Percussion ein wenig an Wendy Carlos und deren Umwandlungen klassischer in elektronische Musik erinnert. Genauso fügt sich The Things You Said mit seinen pochenden Synthesizern und seiner Spieluhr-ähnlichen Melodie gut zwischen die beiden helleren Up-Tempo-Stücke Never Let Me Down Again und Strangelove ein.
Trotzdem hat man die schnelleren Momente etwas lieber, vielleicht wirklich nur, weil sie sich ungleich stärker einprägen, womöglich aber auch aufgrund dessen, dass sie der angesprochenen emotionalen Ambivalenz des Albums besser gerecht werden. Auf diese zu verzichten, würde man als Fehler wahrnehmen, wäre da nicht das grandios unheimliche Finale, Pimpf, das als Horror-Instrumental mit einer tänzelnden Pianomelodie beginnt, allerdings bald von harten, dunklen Trommelschlägen untermalt wird und irgendwann in einer Masse aus dissonanten, hämmernden Klavierakkorden und unheimlichem Choral untergeht. In einer chaotischen Überlagerungen dessen und dazu noch frenetischer heller Synthesizer und rhythmischem Glockengeläut entsteht etwas, das dem Begriff Darkwave alle Ehre macht und dieser LP zum Abschluss ihr eindeutig dunkelstes Kapitel hinzufügt.
Allen, die Depeche Mode allerdings nicht mögen und sich deswegen mit kritischen Worten abreagieren möchten, sei dafür To Have And To Hold ans Herz gelegt, das als einziger wirklicher Fehltritt der Tracklist dasteht. Enttäuschend ist es insbesondere deswegen, weil der sich ziemlich träge aufbauende Synth-Nebel nie an einen klimaktischen Punkt kommt und man nach fast drei Minuten den Eindruck hat, ein ewig langes Intro, aber keinen ganzen Song gehört zu haben. Das ist aber dann eigentlich auch schon alles, was sich wirklich verreißen ließe, denn andere kritische Worte sind immer mit einem gehörigen Aber versehen. So sind die erwähnten, stilistisch stärker an "Black Celebration" angelehnten Songs insgesamt keine beeindruckende Sache und erreichen nicht die Höhen von Stripped oder Here Is The House, ABER sie sind eine im mindesten grundsolide, atmosphärisch starke Ergänzung dessen, was die Höhen des Albums sind.
Und die wurden ja lang und breit erörtert, sodass man an dieser Stelle auf die Zielgerade einbiegen und feststellen kann, dass "Music For The Masses" den Höhepunkt dessen darstellt, was Depeche Mode in den 80ern oder vielleicht sogar in ihrer gesamten Karriere im LP-Format zusammengebracht haben. Geprägt von einer eindrucksvoll beklemmenden Atmosphäre und hitfähigen Mischungen aus Synth-Pop und Darkwave, scheint man hier vor dem mit "Violator" beginnenden Aufkommen eines rockigeren Sounds einen großartigen Abschluss einer jahrelangen Entwicklung geschafft zu haben. Das sechste Album der Briten vereint dementsprechend viel dessen, was auf den Vorgängern teilweise richtig gemacht und an Varianten für den eigenen Sound gefunden wurde. Daraus ergibt sich eine ausgewogene Mischung der beiden primären Spielarten, die sich hier finden lassen, und die bisher atmosphärisch dichteste Vorstellung. Ob das dann die Massen anspricht oder nicht, ist eigentlich auch schon egal.