von Kristoffer Leitgeb, 09.06.2017
Synth-Pop wider die eigene Penetranz und also wider die eigene Herrlichkeit.
Zurückhaltung soll in manchen Fällen eine Tugend sein. Insgeheim ist sie es wahrscheinlich ohnehin immer dann, wenn man nicht mit dem Gegenteil gerade jemandes Leben retten oder die Fackel von Intelligenz und Logik hochhalten kann. Während ersteres selten passiert und selten beansprucht werden kann, passiert letzteres auch selten, kann aber verdammt oft beansprucht werden. Deswegen meine fehlende Zurückhaltung und der Nebenjob als Fackelträger. In anderen Breiten erglühen andere Fackeln und während Schottland sich immer noch zuallererst wegen der delikaten Landesküche auf die eigenen Schultern klopfen darf, hat man mit Chvrches auch noch ein Ass im Ärmel gewonnen, dessen Natur so wenig schottisch wirkt, dass man fast die Reisepässe verlangen möchte. Andererseits war das Trio auf dem Debüt musikalisch ähnlich aufdringlich wie Hausmeister Willie in allen anderen Bereichen. Also doch schottisch, vor allem aber das Prunkstück eines Revivals, nach dem niemand gefragt hat.
Dieses endet vorerst nicht und "Every Open Eye" klingt auch nicht danach, als wollte es dem Synth-Pop seine Daseinsberechtigung absprechen. Und doch ist es ein kleiner Schritt für die Synthheit, den Lauren Mayberry und ihre tatkräftigen Unterstützer tun, um einen zunehmenden Hauch des Organischen durch die eigenen Songs wehen zu lassen. In puncto Songwriting und klanglicher Ausgestaltung wirkt der zweite Auftritt der Band naturbelassener, scheut manchmal davor zurück, sich Hals über Kopf in elektronische Stimmakrobatik und abgehackte Rhythmen zu stürzen. Der Eindruck, der sich dadurch schnell verfestigt, ist der, dass man den harmonischen Fluss sucht, wo vorher oft industrielle Kälte zu spüren war. Was allerdings bereits mit Leadsingle Leave A Trace entkräftet wird, sind dahingehend vielleicht aufkommende Gedanken, man hätte sich von den durchaus trockenen Beats und der elektronischen Vollausstattung getrennt. Es ist immer noch der 80er-Charme, den man predigt und lebt, diesmal sogar eine Spur sonniger und also programmgemäßer als auf dem mitunter drückenden Debüt. Aber alles klingt geschmeidiger, die Puzzleteile fügen sich fast nahtlos ineinander und vereinigen sich zu großen, allumfassenden Melodien, wo es auf dem Debüt noch eine zähes Ringen zwischen ebendiesen und den angriffigen, omnipräsenten Synthies, die in Neonfarben schimmernde Wände aus robotischen Sounds geformt haben.
Das ist ein bisschen weg. Schon im Opener Never Ending Circles bekommt man das Gefühl, dass Ian Cook und Martin Doherty die Musik einer Schlankheitskur unterzogen haben und rund um Mayberrys vereinnahmende helle Stimme abgerüstet wurde, um das wahre Gerüst und Gesicht der Songs freizulegen. Was die Band spätestens in der zweiten Hälfte erleben muss, ist die Tatsache, dass damit keine Medaillen gewonnen werden. Jeder ruhige Moment, den man sich auf der LP gönnt, ist ein zähes Etwas, das in einer den belebenden Klangspielereien beraubten Lethargie aufgeht. Dass man sich dann auch noch Doherty anhören muss, wie er dem zähesten dieser Momente, High Enough To Carry You Over, seinen unverkennbar unpassenden Stempel aufdrückt und sich von jeder Anziehungskraft fernhält, ist ein krönendes Sahnehäubchen dieser unvorteilhaften Entwicklung. In einfacheren Worten: "Every Open Eye" stockt irgendwann. Insbesondere natürlich - wie könnte es anders sein? - in den Minuten, die balladesk anmuten. Warum auch immer wieder? Wer findet behäbige Synth-Balladen denn wirklich großartig? Das funktioniert nicht. Es hat bei den Pet Shop Boys nicht funktioniert, es hat bei Madonna nie funktioniert, es kennt keiner eine atmosphärische Eurythmics-Nummer entsprechender Natur und selbst einer wie Michael Jackson hatte verdammte Probleme, seine musikalisch wenig gefühlvoll anmutenden 80er-Balladen wirken zu lassen.
Also einfach lassen, solche unweigerlich kitschigen Kunststückchen. Die Welt lechzt viel eher nach den dynamischen Kunststückchen, wie Make Them Gold oder Empty Threat
welche sind. Es sind diese wahrhaftige Manifestationen des Hook-Gedankens. Songs, die fast nur aus Hook bestünden, wäre da nicht auch noch dieser Elektronik-Sound, der geschmeidig genug ist, um
die Harmonien zu erhalten, und doch kantig genug daherkommt, um zur eigenständigen Qualität zu werden, ohne dafür irgendwelche melodischen Anwandlungen zu brauchen. Es kann ein simpler Ausritt
des Beats sein, ein für sich genommen monotoner Grundakkord oder auch nur manipulierte Gesangsbrocken, die perfekt eingefügt für ein vollendetes Mosaik sorgen. Überhaupt ist es dieses Talent
für das Formen ultraeffektiver Collagen, in denen sich solche kleinen Bausteine zu unwiderstehlichen Rhythmen zusammenfügen, die für grandiose Ausreißer wie das mit jedem mal stärker
werdende Clearest Blue sorgen.
Im Mittelpunkt all dessen steht, mit ihrer hellen Stimme, der ausdrucksstarken Performance und ihrer neu gefundenen gesanglichen Kraft über allem thronend, Lauren Mayberry. Die ist Gold wert und
beweist die wohl einzige auf ewig unumstößliche These meines Daseins als Analytiker moderner Musik: Vollwertiger Synth-Pop braucht eine engelsgleiche Frauenstimme, um auf Dauer zu
funktionieren! Annie Lennox möge es mir verzeihen, aber die kann ja, wenn sie will, ein Engel der anderen Art sein...
Derweil ist in den Highlands zu bilanzieren. Das gerät positiv, weil diese Band einfach auf ihre Art ideal ist. Nicht perfekt, noch nicht einmal durchgehend großartig. Aber es ist ein Rettungsanker für die, die sich im elektronisch dominierten Pop verlieren und dort nach einer starken Melange gedankenvollen Songwritings und einer Wagenladung passender Hooks suchen. "Every Open Eye" versucht etwas unbeholfen, mehr von ersterem zu bieten und landet damit wenig glücklick an einem Punkt, wo man die Fadesse des Genres aufkeimen spürt. Weil sie einen aber gleichzeitig mit ein paar ihrer besten Songs beglücken und in Empty Threat auch ihr bisheriges Prunkstück finden, ist wirkliche Enttäuschung noch immer weit weg. Stattdessen hört man, wird mitgerissen und huldigt fortan unumwunden der Penetranz in ihrer synthetischsten Form.