von Kristoffer Leitgeb, 05.04.2020
Der Spagat aus Reduktion und Soundvielfalt gelingt, verhindert aber Höhepunkte in gewohnter Form.
Es ist schwierig, ja sogar eine hohe Kunst, seine eigenen Erwartungen und vielleicht damit verbundene Enttäuschungen in einen größeren Kontext zu stellen. Denn die berühmt-berüchtigte Messlatte wird am Ende doch oft höchst individuell angelegt, sobald es um die klassische Geschmacksfrage geht. Also ist das auch in der Kunst so und bei der Musik nicht weniger. Sind die Erwartungen hoch, sind sie schnell einmal unterboten, was noch nicht heißen soll, dass da schlechte Arbeit geleistet wurde. Nicht so einfach, die ganze Sache.
Noch weit schwieriger und die hohe Kunst der popmusikalischen Kunst ist es jedoch, ein rundum harmonisches und vollendetes Album abzuliefern. Umso mehr, wenn man sich ein ambitioniertes Ziel setzt, nämlich emotionaler und atmosphärischer, ruhiger und gesetzter, dann aber doch immer noch mit dem nötigen Variantenreichtum und ein paar Überraschungen ausgestattet zu klingen. Da kommen einem ganz schön viele Hürden in den Sinn. Chris Beer meistert mit "Anytime Soon" die meisten davon, scheitert dann aber doch an einer, die ihn bisher nicht aufgehalten hat.
Um noch einmal an den Start zurückzukehren, ist Beers bisher ziemlich eindrucksvoller Output mit dafür verantwortlich, dass seine nunmehr dritte Solo-LP etwas blasser wirkt, als man es sich wünschen würde. Zwei sehr starke Alben lassen eben ein immer noch durchaus gutes eben schnell im Schatten versinken. Zum Teil ist eben dieser Schatten aber wohl auch ein selbstgewählter. Beer klingt diesmal noch reduzierter und fokussierter, konzentriert auf den Kern seiner Kompositionen, lässt viel des experimentellen Beiwerks, das "Lion In The Sun" so umtriebig und vielschichtig hat klingen lassen, außen vor. Dem zugrunde liegt auch ein merklich ernsterer, melancholischer Grundton, der die von Grund auf optimistische, sonnige Haltung, die der Vorgänger zum Ausdruck gebracht hat, zwar sicher nicht ins Gegenteil verkehrt, die Nachdenklichkeit aber ins Zentrum rückt. Musikalisch äußert sich das aber dann doch nicht nur in Minimalismus, sondern trägt das Album genauso sehr in zurückgenommene, akustische Terrain und zu spärlich instrumentierten Balladen wie zu reggaefiziertem, synthetisch verstärktem Folk-Pop, zu Downtempo und Dub. Nichts könnte die dahingehende Bipolarität des Albums besser einfangen als Home, das einerseits als locker-leichte, mit Overdubs gemütlichem Beat und leichten elektronischen Hilfen ausstaffierte Pop-Nummer zur verdienten Single wurde, andererseits in akustischer, ungleich intimerer und gefühlvollerer Version das Album auf einem Höhepunkt abschließt. Beides funktioniert, beides zählt letztlich zu den Albumfavoriten, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Ist es einerseits die starke Hook, die ein volles, aber nicht überladenes Arrangement ins Ohr gehen lässt, bleiben einem andererseits emotionale Minuten, die durch das Cello verstärkt werden.
An dieser Stelle könnte man annehmen, dass die LP auf diese Art zu einem mehrdimensionalen Erfolg wird. In einer gewissen Form stimmt das auch, weil Beer auf beiden Seiten der Medaille starke Songs anzubieten hat. Mit Full Watts geht sich beispielsweise nicht nur prägnante Systemkritik aus, sondern auch synthetisierter, ein bisschen trippy anmutender Downtempo-Dub, der ohne musikalischen Ballast auskommt und sich deswegen locker und trotzdem schwergewichtig dahinwälzt. Auf der anderen Seite steht das komplett der akustischen Gitarre und dem Cello überlassene Unbreakable, genauso wie das gefühlvolle Anytime Soon, das sich trotz markanter elektronischer Spielereien hauptsächlich auf gesetzte Gitarrenakkorde und einen spärlichen Beat verlässt.
Was einem abgeht, ist lediglich der große Treffer, der den einen oder anderen entbehrlichen Moment vollkommen ausbügeln kann. Schwer zu sagen, woran es letztlich hapert, dass nichts hier an seine bisher besten Minuten herankommt, womöglich ist jedoch gerade der Weg in Richtung Reduktion eine der Ursachen. Wohl aber wieder weniger die Reduktion selbst, als ihre dann doch nicht ganz so rigide Umsetzung. Viele Songs existieren in einer Zwischenwelt, in der Spuren des DIY-Experimentalismus von Beer immer noch herauszuhören sind, gleichzeitig aber der Emotion entgegengearbeitet werden soll. Das ist schwer zu überbrücken, wie das potenziell großartige Miss U Don't Miss U oder Creature Of The Night zeigen. Beide bieten zu viel, um sich emotional entfalten zu können, aber zu wenig, um ihre reduzierten Arrangements noch wirklich interessant wirken zu lassen. Wobei andererseits mehr auch durchaus hinderlich sein kann, wie der im Albumkontext deplatzierte und isolierte Opener Don't Just Say zeigt. Grundsätzlich nettem Reggae-Vibe zum Trotz schafft es der nämlich mit seinen verhallenden, übereinandergestapelten Vocals gleichzeitig too much und doch irgendwie blutleer zu wirken.
Deswegen schaut man besser ans andere Albumende, wo nicht nur die ruhigere Version von Home wartet, sondern auch der starke Reggae-Folk von She (When The Sun Goes Down), das mit seinen lockeren Akustik-Akkorden und der Mundharmonika in höchstem Maße zurückgelehnt und geschmeidig klingt. Dazwischen wartet Remember To Forget und damit der Höhepunkt des Albums, der den lyrischen, melancholisch-nachdenklichen Minimalismus Beers in vollendeter Form bietet und mit einer dezenten Mischung aus Gitarre, Klavier, Streichern und spät einsetzendem, trabendem Beat untermalt. Ein bisschen vermisst man die weniger verfeinert klingende, ursprünglich als Single veröffentlichte Version, an einem großartigen Song, einem von Beers besten, ändert das aber wenig.
Dieser eine Song kann jedoch nicht komplett darüber hinwegtäuschen, dass "Anytime Soon" ein bisschen die glänzenden Ausreißer abgehen, die die Vorgänger noch anzubieten hatten. Die dritte LP, die Chris Beer anzubieten hat, braucht ein wenig länger, um einen zu überzeugen, schafft es am Ende aber doch nicht in der bisher gewohnten Form, weil der versuchte Spagat aus einem Fokus auf das reduzierte Wesentliche und gleichzeitig gewahrter, etwas verspielter Vielfalt schwer unter einen Hut zu bringen ist. Das Kunststück gelingt nichtsdestotrotz, auch wenn man hier und da das Gefühl hat, dass dieses Balancieren zwischen zu viel und zu wenig an musikalischen Eindrücken der einen oder anderen Kompositionen eher schadet als hilft. Etwas mehr in Richtung der beiden Pole zu gehen, wie es mit den so unterschiedlichen Zugängen im Falle der beiden Home-Versionen gelingt, hätte womöglich bei manchem Song größeres Potenzial aufgedeckt. Passiert ist das zwar nicht, ein gelungener Auftritt ist das Album aber auch so geworden.