von Kristoffer Leitgeb, 04.09.2016
Brasilianische Rhythmen mit rockiger Frischegarantie.
Österreich hat ein bissl mehr als achteinhalb Millionen Einwohner, beheimatet also ungefähr 0,12% der Weltbevölkerung. Das ist wenig, also wirklich verdammt wenig. Jetzt wissen wir eher gezwungenermaßen als freiwillig so allerhand über dieses Land, sei es, dass wir Vizeeuropameister im Bierkonsum sind oder dass Andreas Gabalier tatsächlich der zweiterfolgreichste Musiker ist, den das Land je gesehen hat. Und dann gibt es wiederum die Länder, von denen trotz überwältigender Größe kaum einer allzu viel weiß. Bangladesch hat 160 Millionen Einwohner und was kann man über das Land sagen, außer dass es neben Indien liegt? Nigeria hat die 180 Millionen gesprengt, mehr als ein paar Fußballer und Boko Haram bleiben trotzdem nicht hängen. Brasilien dagegen, das hat mit seinen 206 Millionen Leutchen so unfassbar viel zu bieten, dass man sich sicher sein kann, die überwiegende Mehrheit davon ist klischeehafter Schall und Rauch. Dort ist einfach weniger Samba und Karneval, sondern eher Favela und Brandrodung. Aber trotzdem noch verdammt gute Musik, zumindest im richtigen Eck des Landes.
Vielleicht ist Recife das richtigste der richtigen Ecken dort, zumindest ist es der Geburtsort eines Genres, das den brasilianischen Rock in den 90ern auf eine neue Stufe heben sollte. Mangue Bit ward geboren, als sich einige wenige daran machten, Funk, Blues und Hip-Hop mit den traditionellen Sounds der Region zu verschmelzen. Chico Science & Nação Zumbi waren da die Pioniere und sie legten einen auf unverkennbare Art äußerst beeindruckenden Grundstein. Nicht in seiner Gesamtheit, denn "Da Lama Ao Caos" hat Schwächen. Zumindest kommt man nicht umhin, in dem Gemisch aus Rage Against The Machine, Red Hot Chili Peppers und brasilianischem Charme ein wenig die Varianten zu vermissen.
Was jetzt nicht so sehr stört in Anbetracht dessen, dass insbesondere die Rhythm Section als Basis durchwegs glänzt. Dort scheint man am ehesten verankert im Nordosten Brasiliens, verlässt sich auf die klassischen Alfaia-Trommeln und die fast durchgehend im Marching-Drum-Modus eingestellte Snare. In Kombination mit der übrigen Percussion wirken die Tracks rastlos und energiegeladen. Und auf dieser Energie lässt sich aufbauen, sei es mit den harten, dem Metal nahen Riffs des Titeltracks, dem wendigen "Samba-Funk" von Samba Makossa oder dem mit starken Gitarren-Licks vollgepackten A Praieira.
Es ist auch dieses Fundament, das dabei hilft, dass die Brasilianer diverse Richtungsänderungen einbauen und dabei trotzdem alles konsequent und unmissverständlich ihrem eigenen Sound zuführen können. Ein schmaler Grat eben zwischen einer hörbaren Variantenarmut hier, übertriebenem Eklektizismus dort. Angetrieben von den Drums und der präzisen Arbeit von Gitarrist Lúcio Maia gelingt es, beides zu umschiffen. Was mit wuchtigen Drums und unheilvollem Spoken Word beginnt, mündet nicht nur rasch in den funkigen Power Chords von Banditismo Por Uma Questão De Classe, sondern setzt sich in kurzen Instrumentals fort als flirrendes Distortion-Summen des Salustiana Song oder als brachiale Thrash-Härte von Lixo Do Mangue. Und so ist es ein äußerst aktives Spektakel, facettenreich im Kleindimensionalen mit vordergründiger Trademark. Die beinhaltet auch und vor allem Chico Science, den Mann am Mikro und Vordenker des Mangue Bit. Die härtesten Riffs der LP schaffen nicht, was er zusammenbringt, nämlich einem vermeintlich lockeren, dem Rhythmus verschriebenen Sound einen Hauch wütender Angriffigkeit einzuflößen. Vielleicht obliegt das gerade ihm, weil seine oft explosiven Raps der Melodie und Rhythmik nicht gerade wohlgesinnt sind. Zumindest merkt man ihm den Willen zu einer gewissen Formlosigkeit und zum Duell mit der gegenteiligen Musik an.
Seine Vocals in allen Ehren, die Musik spielt woanders, nämlich...bei der Musik. "Da Lama Ao Caos" gehört zur erlesenen Gruppe von Alben, die auch als reines Instrumentalwerk überzeugen würden. Und das am allermeisten, wenn man sich einer gewissen Härte hingibt. Die erste Hälfte spart das noch größtenteils aus, versteigt sich im Falle A Cidade oder Rios, Pontes & Overdrives auch in durchaus langatmigen Arrangements. Doch die Wucht des Beginns wird fortgesetzt, spätestens mit den kraftvoll röhrenden Riffs des Titeltracks. Dass es gerade die Absenz des Spielerischen ist, die der Band am ehesten steht, überrascht vielleicht in Anbetracht der Tatsache, dass die Percussion - das Um und Auf der LP - genau davon lebt. Doch dieser minimale Kontrast bewahrt diese Tracks genauso sehr davor in eine gewisse Lethargie zu verfallen, wie er das ideale Unterfutter für Chico Science bildet. Der passt nirgendwo so gut ins Bild wie im starken Computadores Fazem Arte, dessen kraftvoll pulsierender Beat Raum schafft für Maias präzise Arbeit und für geradlinigere Minuten sorgt.
Es scheint aber unmöglich, dass sich inmitten manch mächtigen Auftritts wie dem von Maracatu De Tiro Certeiro auch verzichtbare Tracks einschleichen. Allein schon deswegen, weil die uniforme Hauptrolle der Percussion der gesamten Tracklist einen ähnlichen Drive gibt. Der kann noch so druckvoll umgesetzt werden, er fordert zumindest kleine Opfer. Salustiano Song wäre so eines, einfach nur, weil sich neben der Snare Drum nur die Gitarre wirklich festkrallt und das dank Distortion-Manie auf schrille und schwer verdauliche Art. Auch Antene-se kann nicht so ganz mit, hauptsächlich deswegen, weil der aufdringliche Funk-Style zu sehr nach den Chili Peppers schreit und dank mühsamer Background Chants noch dazu eher deren nervige Art einfängt.
Aber wo gehobelt wird, nicht? Und weggehobelt wurde von Chico Science und seinen Kollegen doch einiges, was sich an Klischees und Altlasten in der brasilianischen Musikwelt angesammelt hat. Das hat den Amazonas-Staat dann relativ rasch in die 90er katapultiert mit allem, was das Jahrzehnt zu bieten hatte. Funk, Metal, Hip-Hop, Alt-Rock und spätestens mit dem Closer Côco Dub (Afrociberdelia) der nötige Schuss Elektronik. Alles zusammen ergibt ein rhythmisches Feuerwerk und erlaubt einen kleinen Einblick ins Brasilien der 90er.