von Kristoffer Leitgeb, 28.05.2016
Unendliche Spielfreude und viel Talent im kleinen Finger lassen alte Zeiten wieder auferstehen.
In Kuba lässt es sich sehr gut leben. Vorausgesetzt man ist Arzt, ist verwandt mit Fidel "Ich schau cool aus in olivgrün" Castro oder zählt zu den oberen 10 000 des Landes. Alle anderen haben immer noch viele, viele Ärzte, zu denen sie gehen können, könnten aber anderweitig hin und wieder auf kleine Probleme stoßen. So ist das mit den großen Revolutionären, irgendwann verlieren sie alles aus dem Blick, was nicht Revolution ist. Auch deswegen zerfiel der Buena Vista Social Club Ende der 50er, obwohl er bis dahin ein quicklebendiger Musiker-Treffpunkt war. Gut, wir wollen dem guten Fidel nicht Unrecht tun, vielleicht kamen die alten Weisen, die man sich im Club von der Seele spielte, auch einfach aus der Mode. So ganz zu glauben ist es allerdings nicht. Wie auch immer das mit der Politik war, bis zur Wiederbelebung der ehemaligen musikalischen Institution dauerte es knappe vier Jahrzehnte, ein gewisser Ry Cooder musste vorbeischauen und durch Zufälle zum Projekt geleitet werden. Das hat sich einigermaßen gelohnt.
Was nicht unbedingt an Cooder selbst liegt. Der greift zwar gerne zur Slide Guitar und hat die Geschichte am Ende unter die Leute gebracht, aber die Musik bereichert er nur unwesentlich. Dafür sind andere zuständig, nämlich der versammelte Seniorenverband kubanischer Musikanten. Übriggebliebene, könnte man zynisch sagen, Junggebliebene, könnte man mit viel Wohlwollen verlautbaren. So oder so können die Herren einiges, entführen einen zurück in ihre Jugend und lassen sich die Tatsache, dass sie eigentlich schon lange Pensionisten sein dürften, kaum anmerken. Stattdessen regiert eine durchsonnte, vitale Leichtigkeit, die die Klassiker des kubanischen Son und Danzón des angesetzten Staubs beraubt und ältere Semester wie Rubén González (seines Zeichens 68), Ibrahim Ferrer (70) oder Compay Segundo (80) ins längst verdiente Rampenlicht stellt. Am besten sind sie, wenn die vorhandene Energie in lockere Salsa-Rhythmen mündet, mit reichhaltiger Percussion verfeinert wird, von virtuosen Gitarren- und Klavierklängen durchzogen ist. El Cuarto De Tula ist als großes Ensemblestück bestens dafür geeignet. Dem Gemisch aus luftigen Zupfern an der Gitarre und der dreisaitigen Tres, der formgebenden Rhythm Section - omnipräsent und mitreißend an den Congas, unscheinbarer am Bass - und dem sicheren, gemütlichen Dreigesang an der Front erliegt man ganz schnell. Die Stimmen sind eingerostet, nichts könnte einen vom Gegenteil überzeugen, doch die schiere Leidenschaft, die aus Elias Ochoa, Ferrer und Manuel Licea quillt, macht alle Zweifel zunichte. Und sollte man davon doch genug haben, bleiben immer noch charakterstarke Trompeten-Parts, ein furioses Lautensolo und der so natürliche, authentische Klang des Gesamtkunstwerks.
Natürlich bleibt zu sagen, die Herren wurden von anderen Musikstilen und jüngeren Generationen eingeholt, überholt und vielleicht gar überrundet. Die Welt drehte sich, sie blieben in den 50ern stehen, beharrlich. Auch deswegen war "Buena Vista Social Club" nur außerhalb Kubas eine Sensation, während sich auf der Karibik-Insel jeder gefragt hat, was denn so Besonderes an dem alten Zeug ist. Nun, ganz einfach: Es ist die Hingabe zur Musik! Eine Hingabe, die auch dank Cooders behutsamer Arbeit alles durchströmt. Denn die LP ist groß angelegter Überarbeitung entgangen, stattdessen kommt man einer Live-Atmosphäre so nahe wie möglich, erfreut sich kleinster Nuancen im Spiel der arrivierten Köpfe, die leicht hätten verloren gehen können. Nichts dergleichen passiert. Nicht auf Ibrahim Ferrers balladesquer Einlage im pianogetragenen Dos Gardenias, dem er mit seiner Stimme einen ordentlichen Stempel aufdrückt, nur um vom Bolero-Sound der Percussion, sporadischen winselnden Trompeten-Tönen und vor allem von Rubén González jazziger Klavier-Performance herausgefordert zu werden. Nicht im folkigen Amor De Loca Juventud, dem Compay Segundo seinen tiefen Bariton leiht. Und schon gar nicht mit Candela, das als fast schon swingendes Stückerl mit Salsa-Rhythmen beginnt, um sich bald zur lockeren Instrumental-Session und zum Schlagabtausch der Background-Stimmen mit Ibrahim Ferrer entwickelt.
Er ist es wohl auch, der dem Album am ehesten seinen Stempel aufdrücken kann. Wobei, das könnte doch eine Fehlinterpretation sein. Zwar bleibt einem seine markante Stimme im Gedächtnis wie keine andere und er scheint sich auch die zündendsten Klassiker herausgepickt zu haben - auch De Camino A La Vereda ist ihm und der Band wie auf den Leib geschneidert -, doch das Ensemble agiert auch als solches. Als Einheit ohne Schwachstelle, als wunderbar harmonisches Ganzes, zusammengesetzt aus qualitativ hochwertigen Einzelteilen. Die Show stiehlt keiner, Bassist Orlando Lopez oder Lauten-Spieler Barbarito Torres sollen und müssen genauso ihr Lob bekommen wie alle anderen. Das soll nicht heißen, dass nicht manchmal einer mehr überzeugen kann als die übrigen. Gerade der Titeltrack ist es, der das mit seinem Fokus auf González Klavier-Performance irgendwo zwischen Jazz, Swing und dann doch wieder lateinamerikanischen Prägungen vorlebt. Ein entspanntes Instrumental, loungeartig fast.
Vielleicht macht es das Alter des Materials oder die offensichtliche Unaufgeregtheit des zusammengesammelten Trupps, dass man sich trotzdem nie ganz vereinnahmen lässt. Es sind Darbietungen fern jeglicher Dramatik oder Theatralik, naturbelassen, leichtfüßig und flüssig. So schön das ist, steckt in der unvergleichlichen Konstanz des Albums eben auch der Makel der verpassten Chance eines wirklichen Spektakels und Volltreffers. Die Schwächen finden sich kaum in Songform, doch irgendwann ist man dieser gemächlichen Gangart und der quadrierten Ruhe der Akteure fast überdrüssig. Leidenschaft spricht aus ihnen, aber kaum das pure Leben. Viente Años oder La Bayamesa sind so Fälle, in denen es einem zu schleichend und brav hergeht. Doch das Fehlen jeglicher Misstöne bei gleichzeitiger erlaubter Individualität und musikalischer Freiheiten für die Musiker stellt selbst dann noch sicher, dass man an schlechte Minuten nicht zu denken braucht.
Es ist dies die ultimative Stärke einer LP: Die Beständigkeit. Die qualitative Schwankungsbreite der Songs ist klein, zu routiniert und geeint gibt man sich. Die Beständigkeit im künstlerischen Sinne, die Gleichförmigkeit der zwölf Tracks, ist es allerdings auch, die eine höhere Wertung verhindert. Jetzt erwartet man sich keine harten Klänge, keine elektronischen Anwandlungen - bitte nicht! - und mit einem kleinen Blick auf das Alter manches Musikers ist es vielleicht ganz gut, dass die Überraschungen ausbleiben. Ein bisschen mehr Mut zum Variantenreichtum und vor allem zum hohen Tempo hätte man sich allerdings gerne leisten können. Auch ohne selbigen bleibt aber das Verdikt: Ry Cooder hat die richtigen Leute gefunden und sie zurecht endlich ins Rampenlicht gebracht. Da zünd ich mir doch gleich eine Kubanische an...