von Kristoffer Leitgeb & Mathias Haden, 07.04.2017
Des Emos vollendete Seelenwelt und das Teuflische am Detailreichtum.
Der Weg in die Untiefen der eigenen Psyche ist durchaus vergleichbar mit Grabungen auf unserer schönen Erde. Schürft man ein bisschen, findet jeder nach Ort, Lust und Beschaffenheit des Materials unterschiedliche Dinge, die zu ergründen lohnend wäre. Gräbt man aber weit genug, kommen alle am selben Plätzchen an. Hier der Erdkern, ein heißes, zähflüssiges Gemisch mit potenziell tödlicher Wirkung, dort der emotionale Kern, ein mehr oder weniger heißes, mehr oder weniger zähflüssiges Gemisch mit potenziell tödlicher Wirkung. Brand New wollten hin und haben einem Genre seine wichtigste Stunde beschert. Mehr oder weniger.
Ohne jeden Zweifel hat die Band bei ihrem dritten Auftritt ihren eigenen Höhepunkt erreicht und gleichzeitig damit ein Level musikalischer Qualität, das es ihnen ermöglicht hat, die zunehmend gefühlsschwangeren Texte von Jesse Lacey passend in Szene zu setzen. Genretypisch könnte man es nennen, dass sich alles um die Liebe, den Tod und die Depression dreht, dass Positives bestenfalls Erwähnung findet, um in melancholischer Ernüchterung oder düsterer Selbsterkenntnis unterzugehen. Der notwendige Schritt weg von der früheren Domäne, dem Pop-Punk, ist auf alle Fälle getan und die entgegenlaufenden Einflüsse aus dem Indie Rock hier, dem Post-Hardcore dort machen schon Opener Sowing Season zu einer eindringlichen Vorstellung. Nicht nur, dass die Arbeit an der Gitarre massiv an Finesse gewonnen hat, auch die theatralischen Tempowechsel und erratischen Ausbrüche von Casey bringen einen so weit, dass man kaum nicht mit der verstört-tragischen Gestalt im Mittelpunkt mitfühlen kann. Durch Autounfälle, Einsamkeit und eine ungesunde Balance aus Todesangst und -sehnsucht pflügt die Band so, oft genug mit dem Idealmaß atmosphärischer Ruhe und verzweifelter Wut. Jesus, Luca, You Won't Know, Handcuffs, die Reihe kathartischer Minuten ist trotz unvorteilhaft leichter Kost dazwischen, dem späten The Archers Bows Have Broken zum Beispiel, lang genug.
Irgendwo rund um die Zeilen "Well, Jesus Christ, I'm not scared to die / I'm a little bit scared of what comes after" kristallisiert sich allerdings rasch ein Problem heraus, das die LP dauerhaft befällt. Weder die überbordende Theatralik, noch die emotional zerstörte Zurückhaltung ist wirklich die Sache der Band, sodass man mit ein paar Entscheidungen in einer wirkungslosen Mitte feststeckt. Selbst in der textlichen Perle Jesus gelingt es, mit merkwürdigen Soundeffekten den kurzen Refrain beinahe zu ruinieren, allem einen kleinen Dämpfer zu verpassen. Und auch kleine Dämpfer summieren sich, wenn sie zu zwei letztlich sinnfreien Instrumentals führen - eines davon seines Inhalts entsprechend unbetitelt -, das schwer fassbare Limousine bis zur achten Minute ausdehnen oder Not The Sun in einem unvorteilhaft glatten Refrain münden lassen, der fast die Foo Fighters in Erinnerung ruft.
Womit jetzt nicht die Foo Fighters beleidigt werden sollen. Auch nicht Brand New, so nebenbei. Denn die haben mit ihrer dritten LP Alternative Rock geschaffen, der zumindest zeitweise imponiert und berührt. Es wäre allerdings ein Fehler, würde man nicht zu dem Schluss kommen, dass sie sich mit der Themenauswahl und den Kompositionen ein wenig überhoben haben. "The Devil And God Are Raging Inside Me" leidet darunter und die Fassade eines ewigen Klassikers mit beeindruckender Gefühlstiefe bröckelt vor dem Hintergrund früher oder später bei jedem. Was bleibt, ist der Kern: Phasenweise Selbstüberschätzung, dauerhafte Selbstfindung und schmerzhafte Nähe zur emotionalen Selbstaufgabe. Oder kurz gesagt, eine LP mit Nachhall.
K-Rating: 7.5 / 10
Sakrale Weisheiten aus den Untiefen einer geplagten Seele.
Da ist es also, das Emo-Wunderwerk des 21. Jahrhunderts. Hat ja lange gedauert. Kein Wunder, darf man sich so einem sakralen Werk doch nur mit der nötigen Ehrfurcht und langsamen Schrittes nähern. Okay, genug gescherzt. Eigentlich ist das dritte Studioalbum der US-Amerikaner nämlich ein konventioneller Longplayer zwischen Emo-Depression, Post-Hardcore-Manie und Alternative-Rock-Gleichgültigkeit. Vielleicht ein wenig mehr als das und in seiner Gesamtheit tatsächlich eine ergreifende Reise in die Psyche von Jesse Lacey.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand, zumindest hat der Kollege einiges dafür getan, dass diese nur kurz anzupacken sind. Etwa die emotionalen Ausbrüche, die spätestens auf The Devil And God Are Raging Inside Me zum großen Erkennungsmal für Lacey bzw. seine Band avancierten. Vielleicht hätte man die Laut/Leise-Dramaturgie explizit hervorheben können, die gerade Brand New in der zweiten Hälfte der Noughties perfektionierten. Opener Sowing Season profitiert ja davon, auch, weil sich die Gefühlseruptionen des Sängers dort am effektivsten entladen und deren Schwingen am schnellsten den Weg unter die Haut finden. Ein anderer ist, wie nur allzu richtig festgestellt, dass besagter Weg zur eigenen Psyche mitunter die besten Texte offenlegte, die im nicht zu Unrecht häufig zum Prätentiösen ausufernd schuldig gesprochenen Emo-Genre, falls man dies denn so nennen mag, auf seiner lange Zeit subterranen Reise zutage gefördert wurden. Und auch da ließ sich der Kollege nicht lange lumpen, zog zielsicher unser aller Vorbild Jesus aus dem Sarge und würdigte ihn in nachvollziehbarer Dialektik. Auch wenn dem formidablen Outro wohl aus Platzgründen keine Huldigung mehr zuteilwerden durfte.
Mit den anderen löblich und weniger löblich erwähnten Nummern, möchte ich ebenfalls andächtig konform gehen, besonders das - an sich wohl gar nicht als Negativbeispiel hervorgehobene - schwerfällige Limousine (MS Rebridge) erweist sich trotz starker Ansätze und nachhaltiger Textpassagen ("And in the choir / I saw our sad messiah / He was bored and tired of my laments / Said, 'I died for you one time, but never again'") immer wieder als ambitionierter, überlanger Stolperstein. Auch der plötzliche Ausbruch in You Won't Know verliert im Übrigen rasch an Wirkung. Stört in dem Fall auch gar nicht, ist der Track zwischen mächtigen Gitarren und agilen Drums ganz gut aufgehoben. Was weniger gefällt, ist die Reduzierung des Pop-affinen The Archers Bows Have Broken auf "leichte Kost", denn genau diese lebhafte Melodie ist es, die dem Album bis dahin, zur vorletzten Nummer, abzugehen scheint.
Wenn ich sonst noch etwas erwähnen könnte, was sich oben nicht in besser ausgefeilter Form wiederfinden würde, dann ein Kompliment in Richtung Sequencing, das die zwölf Tracks wunderbar ineinander fließen lässt. Dieses kann zwar über tatsächlich unnötige Instrumentals genauso wenig hinwegtäuschen wie über die teils "überbordende Theatralik" (sagte es doch...), sorgt aber letztlich dafür, dass The Devil And God Are Raging Inside Me der Charakter eines absorbierenden, lose zusammenhängenden Konzeptalbums anhaftet. Davon gab es zwar im selben Jahr und selben Wirkungsbereich eine weit bessere Scheibe, das ändert aber nichts daran, dass die dritte der Band eine aufreibende, lohnende LP geworden ist. Oder kurz gesagt: eine mit Nachhall.
M-Rating: 7 / 10