von Kristoffer Leitgeb, 09.02.2018
Auf der Suche nach dem Song, der die Luft zum Knistern und Gedanken zum Kreisen bringt.
Mittelwege sollen eigentlich die gesündesten sein. Fernab der waghalsigen Extreme liegt nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern - zumindest so die landläufige Expertise - auch die geistige Erfüllung. Natürlich ist ein solches Plädoyer für die Ausgewogenheit ganz einfach logisch begründbar und wahrscheinlich relativ nahe an der Wahrheit dran, es war mir allerdings abseits des Selbstzwangs zum politisch Moderaten immer ein Graus. Wer immer die goldene Mitte sucht, findet stattdessen ein hölzernes, verwaschenes Irgendwas, dem man kaum noch zugestehen kann, charakterliche Eigenheiten am Leben erhalten zu können. Die Musik könnte da bei der Beweisführung helfen, denn letztlich ist die akustische Harmonie seit jeher der wichtigste Nährboden für geniale Minuten und balancierte Soundgemische sind Basis vieler Klassiker, die kompromisslosen Extreme sind es aber, die vielfach den größten Eindruck machen. Man sucht ja nicht unbedingt nach dem ausgewogensten Punk-Album, sondern nach dem punkigsten. Und auch der Goth Rock, Metal oder Soul lechzen weniger nach den Leuten, die am besten middle of the road sind, sondern nach denen, die das Genre an ihre kreativen und akustischen Grenzen treiben. Das ist es, was Brand New als Emo-Größen nie hinbekommen haben.
Und "Deja Entendu", dieser Jahre nach Veröffentlichung zum Genre-Klassiker vor dem Genre-Klassiker "The Devil And God Are Raging Inside Me" erklärte Albumauftritt, illustriert dieses Unvermögen ziemlich deutlich. Klar ist, dass sich Jesse Lacey und seine Kollegen relativ leicht damit tun dürften, durch dem Grunge entlehnte Lautstärkenwechsel und der klanglichen Leere gegenübergestellten, kargen Gitarrenzupfern möglichst weit weg vom klischeehaften Pop-Punk zu kommen. Das ist wichtig, weil Pop-Punk nur sehr bedingt die Möglichkeiten atmosphärischer Aufbereitung bietet, nach der Laceys schmerzverzerrter Gesang und seine gleichermaßen weinerlichen wie rührend offenherzigen Texte eigentlich schreien würden. Es ist auch ein Trumpf, sofern man sich dazu hinreißen lässt, die eigenen musikalischen Stärken zu einem eigenwilligen Hybrid aus punkiger Riffwucht und pointiert-sarkastischer Vaudeville-Show zu formen. Dann kommt Sic Transit Gloria...Glory Fades und also ein Track heraus, dessen Stärke gerade die abgehackten Soundwechsel, die erratische Aufregung und Verzweiflung, die der Song ausdrückt - gipfelnd im ungesunden, der Welt entgegengeschrienen Credo "Die young and save yourself" -, und natürlich der Geniestreich einer solchen Bassline sind.
Das ist soweit schön oder eher auf beklemmende Art beeindruckend, macht aber das Kraut einer gesamten LP nur bedingt fett. Und die Tracklist offenbart alsbald Schwächen, die weniger in der thematischen Ausrichtung liegen, auch wenn die vielschichtigen und trotzdem farbenarmen Gedankenwelten unsicherer, junger Erwachsener nicht das revolutionärste lyrische Schlachtfeld sind. Die Musik tut etwas eher weh, weil sie trotz offensichtlicher Entwicklungsschritte gefährlich undefiniert daherkommt. Nicht in dem Sinne, dass man nicht überall die Intention und die emotionale Stoßrichtung zu spüren bekäme. Das ist da, allerdings auf Basis einer stilistischen Mischung, die sich irgendwo zwischen der poppigen Melancholie von Yellowcard und der kitschig-dramatisierten Todessehnsucht von My Chemical Romance wiederfindet. In der Theorie ein erfolgversprechendes Miteinander, in der Praxis landen Tracks wie The Boy Who Blocked His Own Shot, Jaws Theme Swimming oder Leadsingle The Quiet Thing That No One Ever Knows aber in einem musikalischen Niemandsland, dem die Indie-Romantik zwar anzuhören ist, das aber nur sekundenweise die Atmosphäre zusammenbringt, die eigentlich ein ganzes Album umspannen sollte. Trotz plötzlicher Kraftakte, die meistens die Refrains definieren, wirken die Songs unvorteilhaft antiklimaktisch, finden keinen Weg, den oft gelungenen Stimmungsaufbau zu etwas werden zu lassen, das nachhaltigen Eindruck macht. Was die LP zu oft in Richtung einer stark intonierten Nettigkeit abdriften lässt. Tödlich, zumindest für ein Album, das seine Stärke dem Vernehmen nach aus den freimütigen emotionalen Geständnissen von Jesse Lacey und deren Eindringlichkeit bezieht.
Dass ihm genau das gelingen kann, beweist er sowieso, aber leider selten genug. Besonders bitter im Falle von I Will Play My Game Beneath The Spin Light, dessen schwer zu entgehende Akustik-Hook das schmerzerfüllte Flehen von Lacey anfangs perfekt untermalt, irgendwann aber der reinen Definition unnötiger Power Chords weichen muss. Deren Präsenz im Refrain ist irgendwann so stereotypisch für die Band und die musikalischen Sphären, in denen man sich bewegt, dass der Mangel an produktionstechnischen Feinheiten, die den Nachfolger auszeichnen, auch einen Mangel an Eindringlichkeit bedeutet. Tatsächlich machen die Strophen, die sich oft genug vom lauten, kraftvollen Gitarrenlärm fernhalten, mehr Eindruck und fördern ungeahnte Stärken zu Tage. Guernica profitiert genau von denen, obwohl die im Studio zurechtgebogenen Vocal Tracks ein wenig am emotionalen Gehalt nagen. Und trotzdem ist es abseits von Sic Transit Glory...Glory Fades der Gipfel songwriterischer Güte auf dieser LP. Alles, was daran noch vorbeikommt, ist das komplett akustische Finale Play Crack The Sky, dessen poetischer Blick auf das Ende einer Liebesbeziehung von atmosphärischen Schwankungen verschont bleibt, stattdessen voll aufgehen darf im aufs Mindeste reduzierten Arrangement.
Die Ironie dahinter ist trotzdem spürbar. Dass eine Band, die eigentlich dem Punk entstiegen ist, sich zumeist mit kratzigen, zur Soundwand geformten Riffs zu entfalten versucht und außerdem ein wenig Abwechslung in die eigenen Kompositionen bringen will, ausgerechnet mit dem simpelsten aller Mittel und dem variantenlosesten Track zu einem Höhepunkt kommt, schafft eine unvorteilhafte Optik. Wie auch die Tatsache, dass die Strophe:
"I hope this song starts a craze
The kinda song that ignites the airwaves
The kinda song that makes people glad to be where they are
With whoever they're there with"
ausgerechnet dem schwächsten, weil für den Pop-Punk archetypischsten Song entspringt, nicht ideal ist. Zumindest unter der Annahme, dass diesen Zeilen nicht ohnehin eine ordentliche Portion Ironie innewohnt.
Auf alle Fälle schaffen es die New Yorker mit einem Entwicklungsschritt wie diesem, der sie ganz offensichtlich aus dem Pop-Punk herausreißt und musikalischer Reife sucht, am ehesten dorthin, wo man normalerweise von ordentlichen Alben spricht. Die, die einen sporadisch beeindrucken und packen, die in ihrem Kern aber das musikalische Äquivalent zu einem guten Dreier im Zeugnis sind. Das ist an sich nicht schlecht, aber noch keine Großtat, die laut einigen Genreliebhabern ja eigentlich mit "Deja Entendu" gelungen sein soll. Zu sehen wäre eine solche nirgends, andererseits ist die LP auf gute Art beispielhaft dafür, wie die erwachsene und durchdachte Variante eines Genres klingen kann, das sich in vielen Fällen den Pubertierenden und nur denen anbiedern will.