von Mathias Haden, 11.03.2019
Das modernste Pop-Album des Computerzeitalters verliert sich leider etwas zu oft in seinen Verfremdungseffekten.
Vollmundig und mit einer an Überheblichkeit grenzenden Nonchalance hat der Kollege vor langen Jahren einmal einen Review mit der Feststellung eröffnet, dass Depressive die besseren Musiker wären. Das klingt auch 2019 nicht komplett falsch, auch wenn es eine schwer zu verteidigende Behauptung ist, die sich von allen musikalischen Seiten mit Gegenbeispielen bekämpfen lässt. Allerdings nur sehr bedingt mit sauberen, denn um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen, muss man sich ja einen einzelnen Musiker suchen, der nett genug ist oder war, sowohl in depressiven oder zumindest von emotionalen Tiefs geprägten Phasen als auch in weitaus besseren zu musizieren. Manch einem wird aufgefallen sein, dass diese Einleitung praktisch komplett geklaut ist. Unter diesen cleveren Subjekten mit vorzüglichem Langzeitgedächtnis und einer souveränen Kombinationsfähigkeit gibt es vielleicht - die Wahrscheinlichkeit ist nur etwa ein Staubkorn vom absoluten Nullpunkt entfernt - sogar einen, dem bei der beispielhaften Aufzählung des heiligen Kristofferus von Musikern, die in diese Kategorie fallen könnten, ein Name eingefallen sein könnte, der nicht genannt wurde.
Justin Vernon war ja schon zu Zeiten seines Debüts ein eigenwilliger Geselle, der in der
Abschottung der winterlichen Berge von Wisconsin sein Heil suchte und schließlich auch fand. Das fast im Alleingang aufgenommene Debüt For Emma, Forever
Ago wurde so zum Überraschungserfolg und Kritikerliebling und öffnete Türen, die bis dahin verschlossen waren. Mit Nachfolger Bon Iver, Bon Iver war dann alles anders, ohne die Grundtugenden seines Musikverständnisses zu verraten. Größeres
Line-Up, ein beachtliches Arsenal an Instrumenten und damit einhergehend ein Sound, der in seiner Verdichtung dem intimen Charakter seiner Songs weniger nahe stehen sollte, als der reduziertere
Vorgänger, sich aber in seiner unnahbaren Melancholie eigentlich genauso gut schlägt. Danach waren jedenfalls erstmals Rückzug und Auszeit angesagt, denn der unerwartete Ruhm hatte dem Amerikaner
doch ziemlich zugesetzt.
Als im Spätsommer 2016 schließlich die Rückkehr mit Album angekündigt wurde, war die Neugier selbstverständlich groß, die Erwartungshaltung ein sprichwörtliches Brett. Und ja, was soll man sagen. 22, A Million ist tatsächlich wieder eine ganz andere Erfahrung. Die künstlerische Laufbahn hat ja schon einige Musiker über elektronische Hilfsmittel geführt, Vernons Herzensprojekt Bon Iver hat aber eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Eine, die sich gar nicht so sehr über drückende Beats oder dominante synthetische Kalauer erstreckt und mehr einer kühlen, an Verfremdungseffekten reich beladenen Atmosphäre verhaftet ist. So findet sich der von Rockpuristen so verhasste Autotune-Effekt genau so prominent vertreten wie Vocoder und Hall als Stilmittel. Wenn man einen kurzen Blick in das Internet wirft und Stichworte zu der dritten LP sucht, findet man etwa auf der Seite Rateyourmusic als erste drei Begriffe "cryptic", "existential", "introspective" und anderswo kann man rauslesen, dass 22, A Million das modernste Album unserer Zeit sein könnte. Und irgendwie könnte da etwas dran sein. Damit kann man nun seine Probleme haben, die Melodien springen einem nämlich nicht so sehr ins Gesicht wie auf den beiden Vorgängern, nach denen muss man schon konzentriert Ausschau halten. Wenn man sie schließlich findet, wird man auch belohnt, wie im Fall von 29 #Strafford APTS oder 8 (circle). Dass ich hier überhaupt Titel angebe, ist eigentlich gar nicht so relevant, denn die sollen in ihrer verschlüsselten Bezeichnung (siehe u.a. 10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄c, für das meine Word-Version nicht einmal die richtigen Zeichen bereitstellen kann) wohl eh keinen großen Bezug auf Inhalte zulassen.
Man könnte wohl argumentieren, dass 22, A Million in gewisser Weise ein spiritueller Nachfolger von Kid A sein könnte, doch laufen die offenen Strukturen hier nicht ansatzweise so unheilvoll und gleichzeitig schön zusammen wie am Radiohead-Klassiker. Von überall dringen fiepsige Töne, Bläser, schrille Stimmen, stimmungsvolle Percussions, wuchtige Drums oder einfach nur ein knarzendes Gedröhne durch dichte Soundschwaden, muten in ihrer ungreifbaren Distanz teilweise tatsächlich wie der perfekte Soundtrack des unpersönlichen Computerzeitalters an. Leider funktioniert das an so mancher Stelle noch nicht einmal im Ansatz. 715 - CR∑∑KS etwa mutet anfangs wie das Intro eines Kanye West-Intros an - zu frappierend die Ähnlichkeit zu den vorausgegangenen Kollaborationen -, ist aber in Wirklichkeit nur ein in die Länge gezogenes Stimmverfremdungsgeraunze, dessen zwei Minuten sich schon wie eine Ewigkeit in einem Kerker ohne Licht anfühlen.
Weil aber im Verlauf des Albums dann doch klarere Strukturen, eine Handvoll erfrischender Melodiebögen und Vernons hübsches Falsett durch den Nebel elegischer Selbstfindungsmantras durchscheinen und mit Closer 00000 (Million) dann am letzten Drücker noch der Kreis zur klassischen Bon Iver-Formel geschlossen wird, kann 22, A Million dann doch immer wieder aufs Neue versöhnlich abschließen, ohne seine ambitionierten Ideen längerfristig an der Hirnrinde zu bunkern. Justin Vernon ist auch im Jahr 2016 noch ein formidabler Songwriter und - wenn er seiner eigenen Stimme mal ungefiltert eine Bühne bietet - ein toller Sänger. "We've galvanized the squall of it all / I can leave behind the harbour " singt er im emotionalen und atmosphärischen Höhepunkt 8 (circle) und man weiß wie so oft nicht genau, was uns der sensible Eigenbrötler eigentlich mitteilen möchte, aber es scheint ihm insgesamt wieder besser zu gehen. Obwohl 22, A Million wieder eines dieser von meiner Seite aus missverstandenen Meisterwerke sein könnte, kann ich guten Gewissens sagen, dass die dritte und in meinen Augen schwächste LP der "Band" mehr als nur die Summe seiner Einzelteile ist und dank seiner fast schon abstrakten Soundgefüge auf alle Fälle ein spannendes Erlebnis ist, das sich leider zu sehr in seinen Verfremdeleien verliert. Unflexible Freunde von Elton John und allen anderen, deren Melodien stets wie ein Panzer am Radweg unausweichlich auf einen zurollen, sollten eher auf ihre Helden aus alten Tagen und deren Epigonen ausweichen. Nicht bös gemeint, mich selbst nehme ich da ja nur partiell aus.