von Kristoffer Leitgeb, 17.04.2021
Ein letztes großes, spirituelles Vermächtnis in Form des geschmeidigsten Reggae seit Jahren.
In Kürze wird er sich zum 40. Male jähren, der Todestag des global betrachtet wohl bedeutendsten Jamaikaners, den das vergangene Jahrhundert hervorgebracht hat. Robert Nesta Marley, schon zu Lebzeiten über die Grenzen seiner Heimat hinaus eine Legende, wurde nach dem Tod zu einer Ikone des Reggae, der Rastafari und Jamaikas. Wie bei so vielen Ikonen stimmen auch bei ihm posthume Wahrnehmung und Realität nur sehr rudimentär überein, wurden unbequemere Ansichten und Angewohnheiten im allgemeinen Vergessen begraben. Das soll aber nicht heißen, dass er nicht mit vollem Recht zu einem Leuchtturm des friedlichen Miteinander, des Kampfes für Freiheit, Gerechtigkeit und ein Ende jeglichen Rassismus geworden ist. Nicht weniger als dieser Kampf hat ihn insbesondere in seinen späteren Jahren seine spirituelle, dem Rastafarianismus verpflichtete Seite ausgemacht. "Uprising" schafft es, beide Seiten einzufangen und sie einerseits befreiter und entspannter als in den vorangegangenen Jahren, andererseits ähnlich majestätisch und wirkmächtig wie das herausragende Artwork klingen zu lassen.
Im Lichte dessen mag es überraschend klingen, dass die LP die längste Zeit wenig spektakulär anmutet. Stattdessen erlebt man das größte Line Up, das die Wailers jemals hatten, in einer vollendeten Harmonie. Rückkehrer Al Anderson sorgt in Songs wie dem legendären Could You Be Loved, Zion Train oder Work zwar für markante Eindrücke durch sein Gitarrenspiel, die auf den Vorgängern eventuell etwas abgegangen sind. Im Kern findet man sich jedoch in einem rund um Marleys stimmliche und textliche Präsenz aufgebauten Setting wieder, dessen vorstechendstes Merkmal keine einzelnen klanglichen Eindrücke - weder durch die Gitarre, den Bass oder die eine oder andere exzentrische Keyboard-Einlage - sind, sondern viel eher dieses Höchstmaß geschmeidigen Zusammenspiels, das die Grundtugenden des Reggae so sehr lebt wie nichts sonst. Vorbei die Zeiten des militanten, politischen Angriffs, der am von Wut und Kampf gezeichneten "Survival" und schon zu Zeiten von "Exodus" in einzelnen Momenten zu spüren war. Genauso wird aber auch nichts aus der fast zu leichtgewichtigen und vereinzelt komödiantische Züge annehmenden Aura von "Kaya". Stattdessen finden Marley und seine Wailers hier einen eigenen Weg, gewichtig und direkt in ihren Worten, davon aber nahezu durchgehend unbeeindruckt auf musikalischer Ebene. So entsteht die stimmigste Vorstellung der Band seit "Natty Dread" und ein zweifelloser Höhepunkt in der Ära von Marleys Alleinherrschaft und nach dem Ausstieg von Peter Tosh und Bunny Wailer.
Genauso ist "Uprising" wohl auch das von Schwächen freiste Album seit langem. Während man selten verführt ist, sich an die größten Würfe Marleys, an No Woman No Cry, Three Little Birds oder Is This Love erinnert zu fühlen, hat man es durchwegs mit solidem Reggae zu tun, bei dem kaum einmal darauf vergessen wird, ein paar nötige, kleine Finessen einzubauen. So ist Work nicht nur mit einer geschmeidig dahinrollenden Bassline und starken, abwechselnden Einsätzen der Keys gesegnet, sondern vor allem mit Andersons gefühlvoll bluesigen Riffs, die Marleys gleichermaßen geplagte und energische Chants unterlegen. Pimper's Paradise wiederum dockt mit Marleys emotionalem Gesang, den sphärisch schimmernden Keys und den starken Parts der I Three im Hintergrund am R&B an, während Zion Train seine Riffs auf Dauer dem Wah-Wah-Pedal aussetzt und so inmitten der eigentlich gemächlichen Rhythmen für musikalische Anspannung sorgt.
Diesen gelungenen musikalischen Eindrücken zum Trotz ist die letzte zu Lebzeiten Marleys von ihm und den Wailers veröffentlichte LP wie üblich eine, die ohne ihre thematische Ausrichtung, ohne Marleys Texte bedeutend weniger wert wäre. Real Situation ist in dieser Hinsicht ein früher Höhepunkt, besticht als einer der wenigen hier zu findenden, direkt gesellschaftspolitischen Songs und ungewohnt trister Blick auf den Status Quo:
"Check out the real situation
Nation war against nation
Where did it all begin?
When will it end?
Well, it seems like: Total destruction the only solution
And there aren't no use, no one can stop them now
Ain't no use, nobody can stop them now"
Dem gegenüber stehen abgesehen vom konfrontativen We And Dem und dem Blick auf die Schattenseiten von Glamour und Partyleben, Pimper's Paradise, vor allem spirituell dominierte Tracks, die bereits mit dem Opener Coming In From The Cold eher von Religion und Pazifismus dominierte Leitlinien des erstrebenswerten Lebens und einen Appell an Marleys Mitmenschen darstellen.
Ein solcher Verweis auf die spirituelle Prägung des Albums könnte nie vollständig sein, würde sie nicht einen der strahlendsten und doch reduziertesten Momente in Marleys Karriere in den Mittelpunkt rücken: Als Schlusspunkt dieses Albums, damit so ziemlich einer ganzen Karriere und eines bewegten Lebens besticht Redemption Song als unerwarteter und in Marleys Kanon einzigartiger Kontrast zu seiner musikalischen Heimat. Jeglichem Bezug zum Reggae beraubt, stattdessen lediglich Marleys mitunter brüchig klingender Stimme und seiner akustischen Gitarre überlassen, fühlt man sich erinnert an die größten Stücke des frühen Bob Dylan. Daraus wird Marleys wohl eindringlichster, am längsten nachhallender Moment, dessen tiefe Emotion nicht plakativ dramatisch, sondern im klanglichen Understatement voll zur Geltung kommt.
Dem gegenüber steht mit Could You Be Loved ein klanglicher Höhepunkt, der nur kurz davor in vollem Maße das Pop-Gespür des Jamaikaners und seiner Wailers ausnutzt und mit einer göttlichen Hook einen ultimativ stimmigen, relaxten Volltreffer ergibt. Da spürt man ehrlicherweise weniger die große, nachwirkende Botschaft und Emotion, sondern eher die hohe Kunst geschmeidigen Musizierens, für die man jedem Protagonisten gratulieren möchte.
Zur zumindest kleinen Einschränkung dieser Herrlichkeit sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass es dem Album abseits dieser beiden, ohnehin legendär gewordenen Momente ein wenig am allerhöchsten Liedgut mangelt. "Uprising" ist fehlerarm und jeden Durchlauf wert, findet aber erst zum Ende hin mit seinen beiden wichtigsten Songs jene Magie, die Marley in seinen besten Minuten ausgezeichnet hat. Dass sie sich dabei auf so unterschiedliche Art äußert, einmal als zutiefst nachdenkliche, ruhige und bedeutungsschwere Akustikhymne, andererseits als auf die Musik fokussierter Pop-Reggae-Ohrwurm, ist jedoch ein eindeutiger Gewinn. Auch bei seinem finalen, großen Studioauftritt kann er immer noch beides. Ein wenig öfter hätte er diese Stärken aber gerne noch in diesem Ausmaß ausspielen dürfen. Passiert ist das zwar nicht, das nunmehr zum Dutzend angewachsene Ensemble denkt aber deswegen nicht daran, irgendwo zu enttäuschen. Im Gegenteil ist "Uprising" ein Reggae-Lehrstück und ein würdiges Vermächtnis des großen Bob Marley.