von Kristoffer Leitgeb, 04.10.2014
Es ist kein "Exodus", es ist viel mehr. Nämlich Marleys in den Hintergrund gedrängter Volltreffer.
Was haben zum Beispiel Mary Ann Nicholls, Kevin Livingston oder Mr. Charles W. Fairbanks mit diesem Review zu tun? Genau, sie standen nie in der ersten Reihe, eigentlich kennt sie doch kaum einer. Dabei war Erstere immerhin ein wichtiges Opfer von Jack the Ripper, Livingston durfte Lance Armstrong maßgeblich zu den zwei ersten dopinggetränkten Tour-Siegen verhelfen und Signore Fairbanks war doch Teddy Roosevelts Vize-Präsident. Trotzdem, groß in den Geschichtsbüchern stehen andere und genau so ergeht's auch "Natty Dread". Denn obwohl als mächtiges Reggae-Album anerkannt und sogar in Rolling Stones großer Liste zu finden, so wirklich springt's einem nicht in den Kopf, hört man den Namen Bob Marley. Noch nicht einmal auf die Compilation "Legend" durfte zehn Jahre später eine dieser Aufnahmen. Ein Fehler, wie man schnell erkennt.
Denn bei allem Glanz, den "Exodus" abbekommt, und der Bedeutung, die "Catch A Fire" oder "Uprising" beigemessen wird, liegt hier so viel der Brillanz von Big Bob. Anders als drei Jahre später ist der Rock und Pop noch ein Stück weiter weg, der Roots Reggae regiert viel eher in Alleinherrschaft. Das hilft in höchstem Maße, ist doch bei allem spirituellen und politischen Nachklang der Platte viel mehr Gelassenheit und ein besser ausbalanciertes Backgroundteam im Spiel. Wer's nicht glaubt, der darf doch bitte der gelungenen Eröffnung Lively Up Yourself lauschen und sich über die tolle Bassline, vor allem aber über Al Andersons großartige Minimalistenvorstellung an der Gitarre freuen. Nicht zu vergessen die treuen I-Three, Marleys weibliche Gesangsunterstützung, die sich hier mehr als irgendwo sonst als ebenbürtiger Mitspieler gibt und nicht nur als starker Statist im Hintergrund. So wird der Opener zu einem relaxten Loblied auf Reggae, Skanking und ein bisserl Sex, der sich auch über fünf Minuten kaum abzunützen scheint.
Ein Stück kürzer darf's aber anscheinend doch sein, finden sich doch die besten Tracks nicht zwingend unter den längsten. Vor allem Rebel Music macht es sich mit seinen bald sieben Minütchen eindeutig schwerer als nötig, ist zwar dank des starken Keyboard-Parts und der fortwährend mitspielenden Mundharmonika keineswegs ein Langweiler, Marleys oft in dezente Monotonie verfallendes Songwriting macht sich aber eben gerade auf solchen Trümmern besonders bemerkbar. Da er aber netterweise abseits davon Abstand nimmt von solchen Längen, kommt eine unglaubliche Konstanz und Vitalität zum Vorschein, die zum Beispiel auch Revolution oder So Jah Seh auszeichnet. Zum einen hätten wir einen Vorgeschmack auf spätere militante Ausreißer, insbesondere auf "Survival", der insbesondere dank den I-Three und Marleys Gesang, der für seine Verhältnisse dann schon fast aggressiv wirken kann, ist er doch so abgehackt, wie es dem Jamaikaner nur möglich ist. Andererseits gäb's den obligatorischen Applaus für 'Jah', der sich dank seines starken Bläser-Einsatzes ein nettes Plätzchen sichert.
Großartig wird's trotzdem erst woanders. Tatsächlich war das bis jetzt fast nur die 'schwache' Seite der LP, wartet doch unter anderem noch das legendäre No Woman No Cry. Bekannt vor allem in seiner Live-Gospel-Variante, gibt's hier weit mehr dessen, was man als Reggae kennt. Up-beat und mit pulsierendem Bass, dazu mit der hier wohl dynamischsten Vorstellung von Marley, der sich zwar die glänzend gekrächzten Harmonien im Refrain nicht nehmen lässt, abseits davon aber schon bald in Richtung Rap abhaut und so verdammt viel Leben hineinbringt. Eine geniale Keyboard-Performance braucht's noch für ein fantastisches Liedchen über Marleys Kindheit und Jugend in Trenchtown. Dank solcher Zeilen wie
"Said, said, said, I remember when we used to sit
In the government yard in Trenchtown,
Oba - obaserving the hypocrites
As they would mingle with the good people we meet.
Good friends we have, oh, good friends we've lost
Along the way.
In this great future, you can't forget your past,
So dry your tears, I seh."
kommt noch lyrische Brillanz hinein, die Marley hier ungewohnt wehmütig zeigt.
Weniger davon gibt's in Them Belly Full (But We Hungry) und Bend Down Low. Die beiden komplettieren die wirklich mächtige Seite von "Natty Dread", netterweise auch noch auf völlig unterschiedliche Art. Da wäre nämlich einmal ein wütender Protestsong mit dem Satz "A hungry mob is an angry mob" und einem großartigen Zusammenspiel von Marley mit seinen I-Three. Jeder Einsatz der Damen ist auf die Hundertstelsekunde passend, der dunkle Bass-Sound und ein bluesiges Gitarrensolo in der Bridge verfeinern den Track hin zur Bestnote. Bend Down Low sprüht dagegen nur so vor Lebensfreude, ist eine merkwürdige Romantik-Nummer, die sich nicht dem Kitsch ergibt wie Jahre später Turn Your Lights Down Low, stattdessen aber eine Prise Humor einstreut. Gut so, werden doch der insgesamt helle Sound, die smoothe Percussion und die neuerlich starke Anderson-Gitarre zum perfekten Nährboden für ein bisschen ausgelassene Jam-Session-Atmosphäre.
Eine Lockerheit, die noch nicht einmal der ewige Favorit Three Little Birds auf diese Art hinbekommt. Und das scheint ein symptomathischer Vergleich zu sein, zeichnet doch "Natty Dread" mehr als alles andere diese dem Genre innewohnende Gelassenheit aus, die dem Reggae-Gott in späteren Jahren zunehmend verloren gegangen, beziehungsweise von ihm bewusst verbannt worden ist. So kommt selbst bei den ernsten Momenten kaum einmal Trägheit ins Spiel, wenn doch, wird sie durch den spielerischen Klang anderer Songs auch umgehend ausgeglichen. Kurzum: "Natty Dread", Marleys erste Bewährungsprobe ohne seine Kollegen Bunny Wailer und Peter Tosh, zeigt sich als zu Unrecht im Schatten anderer Alben versunken. Vielmehr überstrahlt es die großen Namen im Marley'schen Repertoire, darf getrost als Genre-Meilenstein bezeichnet werden.
Anspiel-Tipps: