von Kristoffer Leitgeb, 17.10.2020
Ein mysteriöses Ding, dessen viele Fehler selbst die Genialität eines Bob Dylan kurzfristig überschatten.
So manch Musikern ist es gelungen, großartige Alben und Songs in die Welt zu setzen, deren herausragende Qualitäten ihnen irgendwann legendären Status eingebracht haben. Wieder andere haben es geschafft, solch grausame und fehlgeleitete Machwerke zu erschaffen, dass sie allein deswegen im gesellschaftlichen Gedächtnis verblieben sind und hier und da, wie im Falle der Shaggs, sogar genau deswegen zu Ruhm gelangten. Nur den allergrößten Künstlern ist es jedoch vorbehalten, beides zu meistern, sich mit musikalischen Meilensteinen und beeindruckenden Klängen genauso in die Geschichtsbücher zu bringen wie mit dem krassen Gegenteil. Bands schaffen es meist nur unsauber in diese Kategorie, indem sie nach diversen Personalwechseln, Zerfallserscheinungen und/oder künstlerischen Streitigkeiten von ganz weit oben ganz unten aufschlagen. Genesis, The Clash, Black Sabbath, die Beach Boys oder Velvet Underground, alle haben sie es erst nach diversen Umbesetzungen und unfreiwilligen Verabschiedungen von kreativen Köpfen oder zumindest in Phasen kompletter Beteiligungslosigkeit ihrer wichtigsten Mitglieder geschafft, sich dem vollständigen künstlerischen Achsbruch hinzugeben. Immerhin, Velvet Underground ist es gelungen, mit Lou Reed einen Mann hervorzubringen, der es höchstselbst geschafft hat, in kürzester Zeit mit positiven und negativen Reaktionen in die Geschichtsbücher zu kommen. Schon etwas früher ist es Bob Dylan gelungen, der aus bis heute nicht ganz aufzuklärenden Gründen zu Beginn der 70er die ihn anhimmelnde Musikwelt vor den Kopf gestoßen hat, wie es selten davor oder danach gelungen ist.
Wobei bereits diese Formulierung eine zu eindeutige ist, suggeriert sie doch, dass Dylan mit seinem legendären "Self Portrait" ganz bewusst und gewollt fast allen ihn bis dahin ausmachenden Qualitäten abgeschworen hat. Und auch wenn das durchaus die allgemeine Lesart dessen ist, was diese unförmige, klanglich und inhaltlich unterwältigende, übermäßig voluminöse Ansammlung von Aufnahmen darstellt, ist es nicht unbedingt die einzige. Dylans ureigener Angewohnheit, seine eigenen Ansichten und vergangenen Taten in regelmäßigen Abständen radikal umzuinterpretieren, ist es zu verdanken, dass niemand so wirklich wissen kann, ob es denn nun wirklich primär seine Intention war, die ihn anhimmelnden und als Stimme seiner Generation vergötternden Dumpfbacken der späten 60er vor den Kopf zu stoßen. Natürlich, es ergibt durchaus Sinn, aber es könnte auch ganz anders gewesen sein. Ein schlichter Schritt, um den grassierenden Bootleg-Veröffentlichungen entgegenzuwirken, indem man einfach selbst einige Outtakes und in der Schublade verschwundene Aufnahmen aus den Vorjahren veröffentlicht. Oder auch einfach nur ein tatsächlicher, veritabler Fehltritt, der eigentlich auch gerne ein großes Album hätte werden sollen. Der Respekt vor Dylans außergewöhnlichen Fähigkeiten macht es äußerst schwierig, letzteres anzunehmen, aber unmöglich muss es deswegen ja noch nicht sein.
Sei es, wie es sei, jedenfalls ist auch "Self Portrait" am Ende eines nach Motiven suchenden Tages nur eine Ansammlung von Musik, die nun einmal gut oder schlecht sein kann. Womöglich ist es aufgrund dessen, was man an Material von Dylan zu diesem Zeitpunkt bereits gewohnt war, um einiges wahrscheinlicher, dass man die hier zusammengestellten 24 Tracks ziemlich unterwältigend, um nicht zu sagen, miserabel findet. Im direkten Vergleich sind sie das meistens auch. Fast zur Gänze über die Maßen leichtgewichtig und ohne die lyrische, emotionale und inhaltliche Qualität von Dylans bis dahin üblichem Output. Dazu musikalisch ein chaotisches, oft genug verunstaltetes oder lieblos behandeltes Durcheinander aus klassischem, dezentem Folk, kitschigen Pop-Standard-Arrangements, klanglich schwierigen Liveaufnahmen, vereinzelten Country-Anflügen und so manch anderem, das sich nirgendwo wirklich einfügen will. Dementsprechend ist es wirklich, wirklich schwierig, sich das hier zur Gänze in einem Durchlauf zu geben und in diesem großen Ganzen dann immer noch ein offenes Ohr für die eine oder andere wirklich gute Vorstellung zu haben.
Derlei gibt es, aber dann doch nicht so wahnsinnig zahlreich. Days Of 49 kristallisiert sich relativ schnell als gelungenste und am ehesten dem altbekannten Dylan gerecht werdende Darbietung. Zwar sind fünfeinhalb Minuten zu viel für die erdige, unmanipulierte Version eines traditionellen Folk Songs, dessen stimmungsvoller Mischung aus akustischer Gitarre, Drums und schwermütigen Klaviereinsätzen höchstens von den schrillen Bläserklängen im Refrain gestört wird, aber es bleibt eine wirklich gelungene Interpretation. Und zusammen mit der ersten, naturbelassenen Version des Blues-Traditionals Alberta und dem nicht weniger bluesigen Standard It Hurts Me Too hat man ein Trio an Songs beieinander, deren mehr oder weniger deutliche klangliche Zurückhaltung trotz unverfeinerter Gesangsperformances sehr in die Hände von Dylan spielt. In diesen Minuten werden positive Erinnerungen an Dylans Anfänge, an sein self-titled Debüt wach, als es für ihn noch Gang und Gäbe war, den einen oder anderen Klassiker und Folk- oder Blues-Standard in seiner eigenen Interpretation aufzunehmen.
An anderer Stelle gelingt es Dylan weniger, sich traditionelle Lieder oder in den 50ern und 60ern bekannt gewordene Folk- und Pop-Klassiker wirklich zu Eigen zu machen. Copper Kettle, von Vielen als einer der einsamen Glanzpunkte des Albums herausgehoben, ist zwar unbestritten Dylans gesanglich beste und gefühlvollste Vorstellung hier, leidet aber merklich an der kitschigen Aufmachung, die Bob Johnston mit seinen Streichern und Backgroundgesängen diesem und vielen anderen Songs hier verpasst hat. So wird aus einem möglichen emotionalen Moment ein Kampf zwischen Dylans atmosphärischer Gesangseinlage und der schmalzig anmutenden Musik, die ihn umgibt. Dylan gewinnt, aber nur knapp. Der 50er-Standard Blue Moon kann dem gegenüber nichts wirklich auf der Habenseite vorweisen, ist allein schon wegen seiner Anwesenheit mysteriös und wird durch Dylans tiefe Stimmlage nicht besser. Und ob es wirklich eine passable, aber ziemlich hingerotzte Version von The Boxer gebraucht hat, ist auch zumindest streitbar, in Wahrheit aber ziemlich zu verneinen. Wirklich unbekömmlich wird es aber dann, wenn klanglich komplett daneben gehaut wird und entweder in I Forgot More Than You'll Ever Know der vollkommene Kitsch regiert, im von Johnstons Streichern und Chor zum Western-Stückl verunstalteten Opener und Nullnummern-Zweizeiler All The Tired Horses nichts Positives herausschaut oder aber die ganze Wucht der klanglichen Unzulänglichkeit des Isle Of Wight Comeback-Konzerts im grausig klingenden Minstrel Boy zum Tragen kommt.
Immerhin sind es nur vier Tracks, die es von diesem Konzert auf das Album geschafft haben, davon kann aber weder die schmerzhaft daneben klingende, countryfizierte Version von Like A Rolling Stone noch die lockere, aber brustschwach anmutende Aufnahme von The Mighty Quinn, das 1968 aus Dylans Feder von Manfred Mann zum Hit gemacht wurde, die Qualität der Studioaufnahmen annähernd erhalten. Bei Like A Rolling Stone schmerzt das aus offensichtlichen Gründen ganz besonders, überlebt doch diese Ausnahmeerscheinung einer Komposition so ziemlich gar nicht, auch wenn sich deren Vorzüge insbesondere textlich dann doch nicht komplett vergraben lassen. Zumindest der lockere Folk-Rock von She Belongs To Me schafft es aber, auch in der Liveversion ähnlich überzeugend zu klingen wie in der Albumversion und zu einem der lichtesten Momente des Albums zu werden.
Was gibt es sonst noch so? Wigwam, das zum Minor Hit gewordene Instrumental, das mit die beste Reputation aller Songs dieser LP genießt, aber abgesehen von seiner kompletten musikalischen Isolation auf dem Album auch als klangliches Duell zwischen Johnstons fehlgeleitetem Bläser-Arrangement und Dylans schrägen "La-Las" eher daneben anmutet. Woogie Boogie, das andere Instrumental, das seinem Titel gerecht wird und finessenarm, aber immerhin unterhaltsam dahinrollt und dem Klavier und Drums in deren monotoner Gangart coole Einlagen an der Gitarre und am Saxophon zur Seite stellt. Belle Isle, diese süßliche, einmal mehr von Streichern belastete, romantische Ballade, die zumindest Marc Bolan fasziniert haben dürfte. Und Gotta Travel On, das zur Abwechslung mal wirklich positiv auffällt und dessen größtes Plus neben der geschmeidigen Arbeit an der Gitarre vor allem Dylans freimütiger, mit den weiblichen Stimmen im Hintergrund stark harmonierender Gesang ist.
"Self Portrait" muss also nicht gänzlich ohne starke Songs auskommen. Von denen gibt es aber ultimativ so wenige, dass die restliche Ansammlung ordentlicher, durchschnittlicher oder wirklich verfehlter Darbietungen einen an die Grenze der Toleranz bringen. Wollte Bob Dylan damit wirklich nur weg vom Status des künstlerischen Generationenvertreters, von der unglaublichen Erwartungshaltung der Kritiker und übrigen Öffentlichkeit, dann ist ein solches Doppelalbum auf der einen Seite definitiv ein gelungener Streich. Auf der anderen Seite ist es womöglich noch immer zu erträglich, sporadisch zu gut und doch wieder zu offensichtlich ein bewusster Schritt weg von allem, was ihn zum erstklassigen Singer-Songwriter gemacht hat, als dass es wirklich hätte funktionieren können. Wiederum andererseits übt dieses unbekömmliche Amalgam absolut nicht zueinander passender Songs auch fünf Jahrzehnte später noch eine merkwürdige Faszination auf so manchen aus. Also vielleicht doch alles richtig gemacht damit, auch wenn musikalisch nicht allzu viel richtig läuft, wenn man den Bob Dylan der 60er als Maßstab anlegt, was man wohl zwangsläufig schon irgendwie tun muss. Dann ist "Self Portrait" der Tiefpunkt seines bis dahin ins Albumformat gebrachte Schaffens, noch unter seinem durchwachsenen Debüt. Ob das nun, wie es eindeutig am wahrscheinlichsten ist, ein selbstgewählter Schritt war oder ihm doch nur passiert ist, wissen werden wir es nie.
Anspiel-Tipps:
- Alberta #1
- Days Of 49
- Gotta Travel On