von Kristoffer Leitgeb, 28.05.2019
Ein grandioser musikalischer Achttausender, majestätisch, einschüchternd und anziehend gleichzeitig.
Legendäre Alben Jahrzehnte im Nachhinein zu reviewen, ist eine beschissene Aufgabe. So viel sei einmal an dieser Stelle gesagt. Dass dem so ist, liegt unter anderem daran, dass man eh schon alles über das Album weiß und was "man" noch nicht weiß, wird auch von mir nicht aufzudecken oder aus der Obskurität hervorgeholt werden können. Und wenn es dann noch dazu um einen wie Bob Dylan geht, wird es doppelt und dreifach schwierig. Metallica, Queen, ja selbst die Beatles in all ihrer Vielseitigkeit und vermeintlichen Neigung zur versteckten Botschaft sind inhaltlich weitaus einfacher gestrickt als der feine Herr Literaturnobelpreisträger, der in seinen Songs mitunter mehr Wörter untergebracht hat als andere auf ganzen Alben. Aber das macht nichts, alles geschmeidig. Bei Dylan wiederum sowieso, wenn man weiß, wo am besten zuzugreifen ist, weil dann ein großartiges, ultimativ fast einzigartiges Erlebnis auf einen wartet. Mitte der 60er kann man für so etwas naturgemäß kaum falsch liegen und in der Mitte der Mitte und damit am Gipfel des Genusses findet man "Highway 61 Revisited", den Triumph unter Dylans Triumphen im LP-Format.
An und für sich läge es auf der Hand, den Grund für diese Ausnahmestellung in der Diskographie des berühmtesten aller Singer-Songwriter auf der textlichen Ebene zu suchen. Und ja, was einem da aufgetischt wird, ist grenzwertig kreativ und ambitioniert, blickt man auf die unfassbare Zahl an Verweisen auf historische Figuren, auf die vielen Gleichnisse, die skurrilen, kurzen Geschichten, die selbst in einzelnen Songs zuhauf vorkommen, diese Menge an Informationen, Referenzen und kryptischen Botschaften, die hier zu finden sind, wenn man es denn darauf anlegt. Das Album ist kein übermäßig langes, verglichen zum Beispiel mit dem Nachfolger "Blonde On Blonde", aber die inhaltliche Dichte ist gewaltig. Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, der künstlerische Erfolg ist noch viel eher auf der musikalischen Ebene zu suchen. Denn "Highway 61 Revisited" klingt genial, erfrischend locker und doch bedeutungsschwer, melodisch erstklassig und mit einer Leichtigkeit zum Besten gegeben, die ihresgleichen sucht. Das lässt sich sagen, nachdem man gerade einmal einen Song gehört hat und es bestätigt sich mit jedem neuen. Wer nun daran glaubt, dass man deswegen jede Sekunde hier liebt, der irrt. Aber die Qualität ist so offensichtlich, dieses auf dem Höhepunkt befindliche Können an allen Fronten so deutlich, dass man es erwähnen muss, selbst wenn nicht alles genau nach dem eigenen Geschmack sein muss. Hier sitzt jeder Ton, ohne hingebogen, ohne dafür seiner Natürlichkeit oder seinem organischen Charakter beraubt worden zu sein.
Im allerbesten Fall ergibt das Like A Rolling Stone und damit den Song aller Songs, wenn man dem Rolling Stone glaubt. Ob es dazu reichen muss, wird in diesem Leben wohl nicht eindeutig zu klären sein, als Einstieg für diese LP ist es allerdings eine geschmeidige Machtdemonstration, locker und doch mit unterschwelliger melodischer Härte gespielt und textlich ein Meisterwerk, dessen missgünstiger Ton beim Blick auf den Fall der "Miss Lonely", der früher alles im Leben geschenkt wurde, nie seinen zynischen Humor verliert oder über die Stränge schlägt und damit vielleicht gar die Sympathien für den Sänger einbüßt. Stattdessen ist es ein eindringlich direkter Angriff und eine lebendige, mitreißende Geschichte, wie es sie wenige in der Musikwelt gibt:
"You've went to the finest school all right, Miss Lonely
But you know you only used to get
Juiced In it
Nobody has ever taught you how to live on the street
But now you find out you're gonna have to get
Used to it
You said you'd never compromise
With the mystery tramp, but now you realize
That he's not selling any alibis
As you stare into the vacuum of his eyes
And say do you want to
Make a deal"
Man kennt, was nun kommt, nämlich der Verweis darauf, dass diese Eröffnung keine Wiederholung findet. Wäre auch beinahe unmöglich. Es ändert aber nichts daran, dass man keine Schwächen finden wird. Bereits der zweite Track, Tombstone Blues, lässt jede Suche danach komplett unsinnig erscheinen. Denn der unwiderstehliche Drive, mit dem hier dem trockenen Blues Rock gefrönt wird, während Dylan quasi ungerührt seine coolste Vorstellung auf der ganzen LP zum Besten gibt, kann so ziemlich niemanden enttäuschen. Da mangelt es nicht an Harmonie, wenn Mike Bloomfield der E-Gitarre ein paar geniale Riffs entlockt oder dahinter an der Hammond-Orgel für die idealen Akzente gesorgt wird. Hohes Tempo wird auch in der Folge keine schlechte Entscheidung sein, denn sowohl der verhältnismäßig gewöhnlich anmutende Rocker From A Buick 6 als auch das genial surrealistische Highway 61 Revisited profitieren gewaltig davon. Mit einer Band hinter sich, die alles richtig macht, singt sich Dylan seine teils nur kryptischen, manchmal auch einfach lächerlich schrägen Zeilen vom Leib, während rundherum makellose Arrangements von großartigen, kratzigen Blues-Gitarrenriffs, treibenden Drums und lockeren Klavier- und Hammond-Akkorden ein einheitliches und doch jedes Mal verändertes Bild ergeben.
Wenig überraschend enttäuscht auch der ruhigere, mal dramatischere, mal melancholische Teil des Albums nicht wirklich, auch wenn man die ganz großen Songs dort seltener findet. Das schon mit unheilvoll anklingenden Klavierakkorden stimmungsvoll eröffnete Ballad Of A Thin Man ist zweifellos ein solcher, auch wenn die Interpretationsmöglichkeiten in diesem Track der schrägen Begegnungen zahllos sind. Ändert nichts daran, dass dem gediegenen, schwergewichtig trabenden Blues ein Maximum an atmosphärischer Ausstrahlung zu eigen ist und Dylans gewohnt ungerührte Stimme ihriges zur ungemütlichen Aura beiträgt. Beschwingtere Minuten wie die von Queen Jane Approximately kommen an das nicht heran, schaffen es gleichzeitig nicht, die musikalische Spannung eines Tombstone Blues aufzubauen. Festzuhalten ist, dass das Kritikpunkte bizarrer Dimension sind, weil eigentlich auch aus diesen Minuten noch höchste musikalischer Güte sprechen. Nur so ganz überzeugen wollen sie einen nicht, vielleicht auch wirklich nur, weil es schwer ist, mit den Vergleichsobjekten auf dem Album mitzuhalten.
Das ist auch ein Schicksal, dem ein Stück Musikgeschichte wie Desolation Row nicht wirklich entgeht. Denn das ist zwar auf textlicher Ebene höchst ambitioniertes Liedgut, klingt auch als rein akustischer Kontrast zum großteils elektrisch unterstützen Rest des Albums durchaus gut, zieht sich aber auf über elf Minuten irgendwann unweigerlich. Nicht auf eine Art, die wirklich stört, aber auf eine, die ein bisschen die Frage aufwirft, ob diese endlose Aneinanderreihung von Referenzen auf Persönlichkeiten unterschiedlichster Epochen und unterschiedlichster Professionen wirklich noch viel zum Song beiträgt oder nur um ihrer selbst willen da ist. Irgendwann im Laufe des Tracks liegt der Verdacht nahe, dass es letzteres sein könnte.
Was nichts daran ändert, dass selbst das eigentlich imposant ist. Doch "Highway 61 Revisited" kann weit besser klingen und textlich auch um ein Vielfaches mehr auslösen als dieses Finale. Und das sagt verdammt viel aus. So viel sogar, dass man diese legendäre, sechste LP des Bob Dylan zu der vielleicht besten seiner vielen legendären LPs erklären kann. Diese beeindruckende Mischung aus musikalischer Leichtigkeit und Brillanz, großartiger Atmosphäre und oft genug höchster textlicher Qualität rechtfertigt eine solche Einordnung auf alle Fälle. In Anbetracht dessen, wie großartig manch anderes Album von ihm ist, sagt das auch global so einiges aus, nämlich dass das hier ein Meisterwerk ist, das zwar nicht unmöglich, aber doch verdammt schwer zu toppen ist. "Highway 61 Revisited" ist ein künstlerischer Monolith, ein Album, das selbst im musikalischen Hochgebirge noch heraussticht, wenn auch vielleicht nicht als höchster bekannter Gipfel, aber zweifelsohne als majestätischer Achttausender.
Anspiel-Tipps: