A storm in the British teacup oder die ekletische Großartigkeit eines Insulaner-Phänomens.
Mittlerweile gibt es von allem ein Revival. Zumindest in der Musik. Als sprachliche Übertreibung muss man das vielleicht doch ansehen, keiner will im Moment Eurodance oder Crunk wiederbeleben, aber der Trend geht in die Richtung und wenn wir als Gesellschaft nicht aufpassen, werden auch diese Dinge zurückkommen wie eine nicht auskurierte Verkühlung. Es ist ja bereits überall. Garage Rock, Post-Punk, Synth-Pop, Disco, Dream-Pop, Soul; und wenn Helene Fischer und Andreas Gabalier nicht das verdammte Schlager-Revival sind, nach dem keine Sau im deutschsprachigen Raum gerufen hat, dann weiß ich auch nicht. Auf alle Fälle ist anscheinend mittlerweile sogar so etwas wie ein kleines Britpop-Revival im Gange, was interessant ist, weil dieses geografisch sehr rigide abgegrenzte Genre vertreten von Coldplay oder Snow Patrol eigentlich ohnehin in Bastardform weitergelebt hat und weil es eigentlich höchstselbst nicht viel mehr als ein Revival dessen war, was die British Invasion so zu bieten hatte. Vielleicht mit ein bisschen New Wave und College Rock dazwischengeklopft, aber sonst nicht wahnsinnig viel.
Die Geschehnisse dahinter entbehren eigentlich einer wirklichen Erklärung, abgesehen davon, dass die Briten möglicherweise genug davon hatten, ein Jahrzehnt lang musikalisch hauptsächlich über Phil Collins, Queen oder in niederen Chartregionen von Bedeutung zu sein. Außerdem war in den 90ern U2 größer als alles, was das Commonwealth vorweisen konnte, und diese Schmach, dass die Iren plötzlich mehr zu bieten hatten, ist dann doch eine große. Geworden ist daraus trotzdem nur Britpop und also ein musikalischer Orkan, der trotz offensichtlicher anglozentrischer Ausrichtung nie wirklich aus dem UK gekommen ist. Nicht nur, dass die Amis desinteressiert waren, sogar der Rest Europas war irgendwie, naja, meh. Ein Phänomen, wie es im Englischsprachigen sonst nur mehr die abgrundtief amerikanische Country-Musik darstellt. Dementsprechend waren Blur auch ein rein britisches Phänomen, als solches aber immerhin mit der Lizenz zu bissigem Zynismus und musikalischem Bandbreitenupgrade für ein ganzes Genre.
Dieses Upgrade heißt "Parklife", allerdings nicht etwa wegen gar so überragender musikalischer Qualität, dass alles andere stümperhaft wirken würde. Nur stand auch damals an der Spitze von Blur Damon Albarn und trotz ungeklärtem Ursache-Wirkung-Verhältnis ist klar, dass mit ihm kein einförmiges Album herausschaut. Ergo zieht es die Band auf 16 Tracks in so viele Genres, dass eine Verwurzelung in den legendären Tagen des englischen Rock - den mittigen und späten 60ern, falls wer fragt - oder auch nur im viel schwammigeren New Wave nur bedingt feststellbar ist. Also es klingt schon so, wie man sich das vorstellt, wenn die musikalischen Ahnen London, Liverpool oder Manchester aufgeweckt haben, aber so breit gefächert, dass zuallermindest die klare akustische Trennlinie zur direkten Konkurrenz von Oasis überdeutlich wird. Ein Album, das sich relativ mühelos zwischen Synth-Rock, Chamber-Pop, Dream-Pop, Punk und schlichtem Rhythm & Blues austobt, kann nur an der eigenen Überheblichkeit scheitern oder zum großen Triumph werden. Mit einem Opener wie Girls & Boys ist letzteres äußerst wahrscheinlich. Der bestechend simple und unwiderstehlich eingängige Hit aus der Synth-Rock-Kategorie präsentiert die wohl größte Bassline eines ganzen Genres, Albarns monotones Organ, das nichts mehr als latentes Desinteresse an der ganzen Welt verkörpert, und einen Refrain, den man in seiner eintönigen Wortwahl kaum griffig entwirren kann, während man zuhört:
"Girls who are boys
Who like boys to be girls
Who do boys like they're girls
Who do girls like they're boys
Always should be someone you really love"
Ob man da nun den Optimisten und eine Message für die sexuelle Freiheit rauslesen will oder aber der südenglische Zyniker die zur Modeerscheinung verkommene Selbstfindung mancher Bevölkerungsschicht aufs Korn nimmt, muss jeder selbst entscheiden. Unstrittig ist es aber ein verdammt starker Chorus als Krönung einer genialen Albumeröffnung.
Die findet starke Fortsetzungen an allen Ecken. Noch relativ planmäßig in den eher gemächlich dahintrabenden Tracy Jacks und End Of The Century, deren beschwingte Rhythmik auf gemütliche und eindringlich harmonische Art an die 60er erinnert, ohne dabei von der einzigartigen Mischung aus freimütigen Seitenhieben, griffigen One-Linern und der prägnanten, aufpoliert rockigen Produktion der Post-"Nevermind"-Jahre abzurücken. Besser zündet trotzdem so etwas schwingungsarmes wie das kurz und knapp runtergerasselte Bank Holiday oder der in Police-Sphären grundelnde Synth-Reggae-Pop von London Loves. Klar ist, die Aufzählung stilistischer Umwege und Anleihen könnte endlos sein. Dass man sich für das melancholisch angehauchte, zur Abwechslung so gar nicht gesellschaftskritische Badhead für Collins-Gedenk-Bläser als Kontrast zum untersetzten sonstigen Sound entscheidet oder aber Jubilee zum Vorboten des bald heraufgrauenden Garage Rock Revivals macht, überrascht im Lichte dessen nicht. "Parklife" zerrt in alle Richtungen, macht aber gleichzeitig nicht den Fehler, wie fünf Alben gleichzeitig zu klingen. Im Gegenteil, die gesangliche Note von Damon Albarn, der auf die Rhythm Section fokussierte Sound der Band und vor allem die spürbare thematische Einheit der allermeisten Tracks verleiht der LP diesen mysteriösen Hauch eines extravagant unsteten Konzeptalbums. Der ist vielleicht eine Fehldiagnose, andererseits ist die Verbindung zwischen dem everyday life eines Typen wie Tracy Jacks und dem Fernweh nach dem überseeischen Glanz im comichaft ausstaffierten Magic America keine, die nur verdrehte Hirne herstellen würden.
In diesem Sinne sei die musikhistorisch dreiste Behauptung erlaubt, "Parklife" ist die eindeutigste Studie der britischen Seele im Rock, seit die Kinks mit den 70ern auch ihre verschachtelten Konzeptalben hinter sich gelassen haben. Manch einer mag das als Übertreibung empfinden, andererseits ist das dritte Album der Britpopper nicht mehr oder weniger als eine Aneinanderreihung vermeintlich belangloser Geschichten aus dem Alltag zumindest mancher Engländer, gewürzt mit genug Ironie, um das ambivalente Verhältnis der Band zu genau diesem Leben heraushören zu können. Nicht, dass alles verdammt würde und großes Anprangern an der Tagesordnung stünde. Spricht ja keiner von The Clash. Aber es beschleicht einen ein bisschen das Gefühl, Songs wie Clover Over Dover oder Trouble In The Message Center sind angefüllt mit einem "Something's not quite right"-Gefühl, das eher ein belustigtes Achselzucken als die große Rebellion bedeutet. Sowas kann man belächeln oder geringschätzen, andererseits klingt es ziemlich cool.
So ganz frei von Verwerfungen ist die LP trotzdem nicht, weil man einerseits nur bedingt weiß, warum genau es To The End gibt und was einem die zum Song gewordene Fahrstuhlmusik darin wirklich sagen soll, weil auch andererseits die Eindringlichkeit vieler Tracks zu wünschen übrig lässt. Ein bisschen existieren sie in einer Zwischenwelt, fernab von der genialen, poppigen Unwiderstehlichkeit von Girls & Boys und wirklich mutiger Verschrobenheit. Bekömmlich sind die Songs allemal, aber nur so weit, wie noch genug Platz ist für den ausgefallenen Synthie-Einsatz, ein kratziges Solo und musikalische Symbiosen der weniger offensichtlichen Art. Und vice versa. Keines von beidem entfaltet sich zur Gänze.
Das ist aber dann doch irgendwie wurscht. Man kann auch einfach zufrieden damit sein, dass ein Album, das in der Ungefährlichkeit des Britpop beheimatet ist, so viele Charakterzüge in sich vereinen kann und gleichzeitig noch den Finger mit einer ordentlichen Prise trockenen Humors in die eine oder andere gesellschaftliche Wunde legt. "Parklife" macht all das mehr als ordentlich und schafft es trotzdem noch, am Ende einen langatmigen, archetypischen Britpop-Song wie This Is A Low hinzuknallen, der in seiner theatralischen Bedrücktheit unpassend, aber doch nach großem Kino klingt. Dementsprechend ein geschwungener Gusenbauer-Daumen nach oben für die, die den "Battle of Britpop" damals für sich entschieden haben und trotzdem nie in Wonderwall-Dimensionen aufgestiegen sind. Das hat auf alle Fälle den Vorteil, dass nirgendwo im Kanon von Blur eine mühsame Nummer wie Wonderwall zu finden ist und schadet so nebenbei auch der Qualität von "Parklife" keinen Deut.