von Kristoffer Leitgeb, 29.03.2019
Die komplizierte Rückschau auf einen kurzen Höhenflug wohltemperierter Alt-Rock-Härte.
Wenig bis nichts eint so ziemlich alle Musikhörer dieser Welt, was wir allerdings wohl ausnahmslos alle eingestehen müssen, ist eine in der Retrospektive durchwachsene Entwicklung des eigenen Geschmacks und das Wissen um ein paar schwer zu verteidigende Exemplare unter den eigenen Favoriten von anno dazumal. Manche Generationen haben es dahingehend einfacher als die unsrige, weil die in den 70ern oder frühen 90ern zu musikalische Größe herangereiften kaum falsch liegen konnten, außer sie haben ausgerechnet Barry Manilow und Vanilla Ice rauf und runter gehört. Was hatten wir? Die Wahl aus Pop-Punk, Nu Metal, Emo, weichgespülten R&B, ein paar halbgare Revivals und Casting Shows. Es gab schon noch ein bisschen etwas anderes auch, aber abgesehen von so manchem Hip-Hop-Klassiker, der zusammen mit dem weichgespülten R&B den Weg zur Weltherrschaft der Black Music geebnet hat, ist zu Beginn des dritten Jahrtausends nicht so wahnsinnig viel an anhaltend verehrtem Zeug herausgekommen. Und so drohen auch die damals in deutschen Landen erstaunlich erfolgreichen Billy Talent dem zeitlichen Verfall zu erliegen. Allerdings nicht gemeinsam mit ihren Alben aus genau diesen Tagen.
Denn die Kanadier, die damals intelligent genug waren, ihre Kreativität komplett in die Musik fließen zu lassen, anstatt etwas davon für die Suche nach knackigen Albumtiteln zu verschwenden, gehören zu den wenigen Vertretern meiner kindlichen und jugendlichen musikalischen Prägung, die kaum Federn lassen mussten und noch nicht einmal angestaubt klingen. Und das ist eine bemerkenswerte Leistung, auch wenn es nicht nach allzu viel klingen mag. Immerhin verdammt man sein früheres Ich ganz gerne für offene oder versteckte Geschmacksverirrungen. Doch "Billy Talent II" entgeht diesem Schicksal wie kaum ein zweites Album, was zu guten Teilen daran liegt, dass die deutlichen, allerdings netterweise nicht zu dramatischen Änderungen gegenüber dem Debüt offensichtlich ein melodischeres, zugänglicheres Album zum Ziel haben, ohne dafür aber die Härte und Emotionalität in irgendeiner Form aufzugeben. Diesen Spagat zu schaffen, ist relativ schwierig, allerdings auch schon mit Opener Devil In A Midnight Mass hinreichend erledigt. Je nach Gusto kann man den verzerrten Introriff und das nasale Kreischen von Ben Kowalewicz zur Eröffnung wahlweise kitschig oder einfach verdammt cool finden, die großartige Hook und die druckvolle Härte, mit der man den Zeilen zum kirchlichen Kindesmissbrauch die passend drückende Atmosphäre verleiht, wird man allerdings schwerlich schlecht finden können. Im Gegenteil begegnet man so innerhalb von drei Minuten allem, was die Band kann, in der bestmöglichen Form.
Allerdings kann man das relativieren, weil es andere Kandidaten für den Platz an der qualitativen Spitze der Tracklist gibt. Die chartfreundliche Single Surrender beispielsweise, die vor allem dank Kowalewicz' starker gesanglicher Performance auf ewig als die mit Abstand beste Ballade der Bandgeschichte bestehen bleiben wird. Das nicht nur wegen seines schrägen Videos erinnerungswürdige Fallen Leaves, das wohl am besten die Brücke zwischen dem melodiesüchtigen Alt-Rock folgender Alben und der punkigen Härte des Debüts schlägt, was zum größten Teil Ian D'Sa und dessen Gitarre zu verdanken ist. Oder auch The Navy Song, dessen endzeitliche Stimmung wiederum überwiegend durch die starke Gitarrenarbeit verstärkt wird, insbesondere durch das markant hohe Picking, das den Song von der ersten Sekunde an durchzieht. Und doch ist es eigentlich das fast unscheinbare This Suffering, das das Rennen macht, weil es die trockenste Vorstellung des Album ist; ohne große Extras, dafür aber mit dem besten Refrain des Albums, in dem D'Sas Backgroundgesang bestmöglich zum Tragen kommt.
All dem gemein ist, dass man ein bemerkenswertes Gefühl dafür beweist, den Fokus auf melodisches Songwriting, klangliches Feintuning und leidenschaftliche Härte auszubalancieren, gleichzeitig textlich ein wenig an Tiefe zu gewinnen. Dementsprechend wird man zwar nicht umhin kommen, Ian D'Sa trotz der einen oder anderen starken Vorstellung am Bass und den Drums als Um und Auf der Band zu bezeichnen, was womöglich auch daran liegen könnte, dass der als Co-Produzent ein besonderes Auge auf den Sound der Gitarre gehabt hat. Und die klingt verdammt gut und weit weniger eindimensional als auf dem Debüt. Stattdessen offenbaren sich Song für Song in kurzen Abständen perfekt getimte Soundwechsel, die sich zwar ausnahmslos immer im Alt-Rock-Kosmos abspielen und damit keine Kreativitätsgrenzen sprengen. Die Machart imponiert allerdings gewaltig, weil sich die Band mühelos zwischem dem straighten Pop-Punk von Red Flag, der hymnischen Atmosphäre von The Navy Song oder dem drückend-depressiven Emo-Rock des finalen Burn The Evidence wechselt.
Während damit gesichert ist, dass das Album prägnanter, abwechslungsreicher und damit noch kurzweiliger klingt als der Vorgänger, ergeben sich daraus auch offensichtlichere Fehltritte. Keine dramatischen, um diese Vermutung gleich einmal zu entkräften. Allerdings treten Schwachstellen zu Tage, die hauptsächlich dadurch zustande kommen, dass man tempomäßig im Uncanny Valley schleppender Melodramatik landet. Das zieht Pins And Needles und das zähe Covered In Cowardice unnötigerweise ins biederste Mittelmaß, obwohl da definitiv mehr Potenzial zu erahnen ist als in den lockeren Rock-Happen Where Is The Line? oder Perfect World. Die enttäuschen zwar definitiv nicht, sind aber von der Sorte ordentlicher Song, die einzig und allein wegen starker Riffs und dem vorteilhaft hohen Tempo auf die Butterseite der Bewertung fallen.
Das ändert allerdings nichts daran, dass "Billy Talent II" von konstant hoher Qualität ist und mit einem Haufen Songs aufwartet, die es einem schwer machen, dem Rock der 00er-Jahre nicht doch ein bisschen mehr Lob zu gönnen. Auch mit Blick darauf, wie unterwältigend die Kanadier auf den folgenden Alben teilweise geklungen haben, ist es eigentlich bemerkenswert, wie wenig es an Änderungen gebraucht hat, um das Debüt zu toppen, und wie souverän das Quartett hier auftritt. Es hilft, dass man sich deutlich mehr den persönlichen Themen zuwendet, dort nach der einen oder anderen Weisheit sucht und die Wut auch einmal außen vorlässt, ohne damit gleich auch noch die Dringlichkeit der Musik aufzugeben. Stattdessen wirkt die LP umso emotionaler, dabei inhaltlich breiter aufgestellt - mit einem Auge auf Liebe, Verrat, Enttäuschung, dem anderen auf politische und gesellschaftliche Dramen gerichtet - und schafft es dank des verbesserten Songwritings, auch ohne ständigen High-Speed-Musizierens, eine hohe Spannung aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne ist "Billy Talent II" eine Großtat im kleineren Sinne, zum regionalen Erfolg verdammt, immerhin aber trotz ungünstiger Release-Ära mit Lizenz zur Zeitlosigkeit.