Das Meisterwerk nach dem Meisterwerk - die nächste Machtdemonstration der First Lady of Pop.
Es sind die Momente der Bestätigung, in denen jedem Musikhörer das Herz aufgeht. Wenn der verhasste Bieber eine Gurke nach der anderen aus dem Zauberhut zieht, endlich kein Schwein mehr nach den Kings of Leon pfeift oder Eric Clapton nach gefühlt hundert langweiligen Alterswerken endlich den Rückzug ins Privatleben antritt, ja, dann schmunzeln sich die Keppler beherzt und mit breiter Brust ins Fäustchen. Sie wussten es ja immer schon. In meinem Fall bedeutet dies, die Thronbesteigung der neuen First Lady of Pop, Queen Beyoncé Knowles schon einige Zeit vorausgesagt zu haben. Mit jedem Album wurde die Amerikanerin mit dem mächtigen Stimmorgan nur besser, mutiger, unwiderstehlicher und konnte das Potenzial, das sich bereits in ihren Tagen mit Destiny's Child identifizieren ließ, immer ein Stückchen weiter abrufen. Als Yoncé dann 2013 mit dem Überraschungsrelease ihres selbstbetitelten Meisterwerks die Pop-Hierarchie auf den Kopf stellte und die Krone endgültig für sich beanspruchte, war es dann auch dem Rest endlich klar. Und was liegt nun am Rest? Der Rest ist bloß die Menschheit - und der muss man bekanntlich überlegen sein, durch Kraft, durch Höhe der Seele und natürlich Verachtung. Danke Nietzsche, ich hätte es nicht besser ausdrücken können!
Ein kleiner Literaturexkurs, der uns prompt zurück in die fabelhafte Welt der Carters und Queen Beys brandneuer, nicht unwesentlich weniger überraschend erschienener LP zurückbringt. Eine Welt, die - liest man erst einmal zwischen den Zeilen - gar nicht so perfekt scheint. "Today I regret the night I put that ring on" singt sie in Sorry, einem herrlichen Exempel dafür, wie sehr die Sängerin auf ihrem Weg von Destiny's Child hin zum neuen Album Lemonade gereift ist. Nicht lediglich als Vertonerin hübscher Worte, sondern auch als Songschreiberin und Produzentin. Auf jedem der zwölf Stücke, die das sechste Soloalbum beglücken, hat sie jeweils einen Credit eingeheimst. Keine Selbstverständlichkeit in der unpersönlichen Welt des Pop. Aber zurück zu den Carters und Sorry. Nicht nur auf diesem kleinen Prachtstück, dass sich mit jeder Sekunde von ziellos atmosphärischen R&B-Mustern zur immer präziser werdenden Erzählung steigert, finden sich Referenzen über möglichen Ehekrach. Ob clever eingefädelter Marketinggag oder emotionale Selbstfindung bleibt den Spekulanten und vor allem Mr. und Mrs. Carter überlassen, mir reicht Beyoncés Performance, die interessanterweise die einzige der LP bietet, die an andere Künstler erinnert (Nicki Minaj in einer kurzen Einlage und Miley Cyrus im Refrain und der Mittelfingerattitüde).
Warum Lemonade nun ähnlich großartig wie das Selftitled-Album ist, wird erst nach ein wenig Befassung klar. War der Vorgänger schon mit etlichen Ideen und Stilelementen angereichert, wird man hier vom Innovationsgeist fast erschlagen. Erst nach und nach machen die einzelnen Genre-Exkurse Sinn und fügen sich nahtlos zusammen. Auf Don't Hurt Yourself mit Jack White als merkwürdig anmutendem Gast regiert der Blues, wird zudem Led Zeppelins When The Levee Breaks zur Verlängerung des Aha-Effekts genutzt. Daddy Lessons balanciert zwischen lockerer Country-Akustik und lässigen Bläsern, Hold Up bringt Reggae- und Dancehall-Elemente auf das Parkett. Platz für Hip-Hop, Funk und Elektronik, die neben R&B und Pop den Grundton der letzten LP legten, ist freilich auch genug vorhanden. Freedom bittet mit donnerndem Beat und aggressiver Performance den Hip-Hop-Star des vergangenen Jahres, King Kendrick Lamar, zum Tänzchen, 6 Inch vereint Beyoncés verletzlichen Gesang mit wuchtigen Elektro-Gedröhne und düsterer Atmosphäre, hat neben einer Handvoll Zeilen für The Weeknd auch genug Raum für eine My Girls-Referenz (Animal Collective, in case you forgot): "She too smart to crave material things". Nicht jedes Experiment weiß freilich zu gefallen. Weder das mit funkelnden Synths verschönerte Love Drought, noch das ominöse, interludeartige Forward mit James Blake wissen viel zur Güte des Longplayers beizutragen, sind aber immer noch weit weg davon, als schwach bezeichnet werden zu dürfen. Wer sich von den unterschiedlichen Facetten überfordert fühlt, der bekommt zum Ende hin noch ein klassisches Hip Hop/R&B-Gemisch der feinsten Art serviert, mit besagtem Freedom, dem elektrisierenden Bindeglied zwischen Vorgänger und neuer LP, Formation, und dem herzhaften Midtempo-Gustostück All Night, das zu hallenden Gitarrennoten ein Bläsersample vom besten Outkast-Track ever (OttieSpottieDopaliscious) in den Ring wirft. Einfach magisch.
Ähnlich dem Vorgänger, der für jede seiner Nummern ein Video auf der beiliegenden DVD bereithielt, erreicht auch Lemonade mit der zugehörigen Visualisierung, diesmal in Form eines zusammenhängenden Films, eine neue Dimension der Ästhetik. Aber auch ohne diesem hat Yoncé den Platz auf dem Pop-Thron eindrucksvoll verteidigt. Die Amerikanerin will viel, zeigt sich von so vielen Seiten, dass alte Fans womöglich verstört, neue aber bestimmt irgendwo ihr Heil finden, kokettiert mit eindrucksvoller Stimmgewalt und scheitert letztlich nur in einem einzigen Unterfangen: den Vorgänger noch zu übertrumpfen.