von Kristoffer Leitgeb, 13.09.2017
How could music be any more punk?
Ein Genre präsentiert sich zum Zeitpunkt seiner vermeintlichen Entstehung - die "Aber es gab da vorher schon"-Spielchen lassen wir gemeinsam außen vor - nie in Vollendung. Nie! Punkt. Das allein ist noch keine qualitative Beschreibung, es ist schlicht und einfach das Akzeptieren der Tatsache, dass etwas, das gerade erst erdacht wurde und einen Namen bekommen hat, unmöglich seine finale Form angenommen haben kann. Außer das Genre ist so scheiße wie Crunkcore, sodass es keiner mehr wirklich verändern will. Aber die ersten Gehversuche im Psychedelic Rock klingen nicht so wie die legendären Proponenten des Summer of Love, die kommerzielle Geburtsstunde des Metal mit Led Zeppelin und Black Sabbath ist als blueslastige Härte weit weg von dem, was man heute als Paradefall des Genres kennen würde, und kein Schwein würde behaupten, dass das Grundmuster elektronischer Musik wirklich so klingt wie Eno und Kraftwerk es vermuten lassen. In den meisten Genres ist das eine gleichermaßen banale wie unwichtige Erkenntnisse, weil die musikalische Spreizung dazu führt, dass ohnehin überall Subgenres sprießen. Dann ist ordentlicher Metal nicht mehr nur Metal, sondern er muss Heavy sein. Nur der Punk, der ist immer automatisch Mitte der 70er in seiner reinsten Form zu finden. Angeblich.
Und wo sogar ein MusicManiac das in der Ramones-Top-10 behauptet, muss es eigentlich so sein. Doch haltet ein, Ritter der Gitarrenrunde, so nicht! Auch hier hört man Blitzkrieg Bop gerne, ohne darin irgendwie the punkiest of the punk zu sehen. Ok, Anarchy In The U.K. oder White Riot hätten vielleicht eher das Zeug, als stilistischer Kern des Genres zu gelten, aber retrospektiv hat der Punk die hemmungslose und trotzdem zielgerichtete Aggressivität in purster Form doch erst etwas später hinbekommen. So sehr die 80er nämlich mit Nazi Punk und der unheiligen Allianz aus Alkohol und Gewalt das Genre an den Rand der Bedeutungslosigkeit gebracht haben, haben sie der Welt fast im Gleichschritt mit dem Thrash Metal auch den Hardcore Punk in aller Blüte gebracht. Und jetzt heißt der Hardcore, damit man sowas wie Safe European Home nicht retroaktiv eher unglamourös als Soft Punk titulieren muss. Aber trotzdem wirkt erst das, was zwischen "Plastic Surgery Disasters" hier, "No Control" dort geboten wurde, als der Endpunkt des Genres, das Ausreizen einer Formel bis an den Punkt, wo sie vielleicht nicht am besten und fehlerlosesten, aber am kompromisslosesten klingt. Und welches Genre, wenn nicht der Punk, muss nach Kompromisslosigkeit streben?
Kein Wort bisher über Bad Religion, obwohl sie mit ihrem Debüt einerseits in das oben abgesteckte Zeitfenster fallen - es so nebenbei selbst mit einem Album abgrenzen -, andererseits mit dem unerbittlichen Festhalten an eingefahrenen Songmustern und der immerwährenden vollen Breitseite an Gesellschaftskritik die Vorgaben vollends erfüllen. Auch schon mit ihrer ersten LP, obwohl oder vielleicht gerade weil sie klingt, als wäre sie in einem Take eingespielt und danach nie wieder angerührt worden. Erinnerungen an "The Clash" werden da wach. Auf alle Fälle ist "How Could Hell Be Any Worse?" allein deswegen ein meisterlicher Karrierebeginn, weil trotz personeller und finanzieller Widrigkeiten sowie des offensichtlichen Mangels wirklich eigenständiger musikalischer Charakteristika eine in sich geschlossene und von rhythmischen High-Speed-Power-Chords befeuerte Playlist zustande kommt. Etwas überraschend, passiert das sogar weniger einförmig als Jahre später auf "Suffer", Tempowechsel und der Versuch, sich mit klanglichen Umwegen der gewünschten Endzeitstimmung näher zu kommen, sind Zeugnis dessen. Es passiert also mehr und das zu niemandes Nachteil. Opener We're Only Gonna Die bietet nicht nur die beklemmendste Albumeröffnung seit "Pornography", sondern nebst eines Tempos im 500er-Puls-Bereich auch noch einen unüblichen Mittelbau, in dem plötzlich sich die Band erst langsam wieder auf Touren bringt, als Ersatz das Klavier und Akustikriffs aufbietet, um damit den Power Chords Paroli zu bieten.
Das allerdings ist nichts, was nach umgehender Wiederholung lechzt, weswegen man sich zwar dem einen oder anderen stimmungsvollen Intro hingibt, insgesamt aber doch Brett Gurewitz und seiner Gitarre das Zepter für die Albumlänge behalten. Die Doppelherrschaft von ihm und Frontmann Greg Graffin ist hier insofern sehr ertragreich, als dass Gurewitz zwar weniger präzis, dafür roher und mit seinen kurzen Soli wie im starken Part III angriffslustiger als auf anderen LPs wirkt, Graffin dagegen jegliche textliche Finesse vermissen lässt und stattdessen im trockensten, brutalsten Ton das Weltenende kommen sieht:
"They say when a mistake is made, a lesson has been learned
But this time, there's no second chance, the hate engulfs the world
A million lives are lost each day, a city slowly burns
A mother holds her dying child, but no one is concerned!"
Einen mehr als nur vorläufigen Höhepunkt erreicht das im rechtmäßigen Punk-Klassiker Fuck Armageddon...This Is Hell, dessen basslastiges, schwelendes Intro schon einigermaßen den Eindruck vermittelt, das vorhergesehene Ende wäre nah. Der Rest ist dann nicht weniger als die komprimierte Form der düsteren, nihilistisch-hoffnungsarmen Botschaft des ganzen Albums, zusammengefasst in der titelspendenden Zeile "How could hell be any worse when life alone is such a curse?" Für Bad Religion bedeutet das ihre auf eine eigene Art traurigste LP, der Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Zustände gegenüber stehend und mit der Gewissheit eines nahenden Endes. Jahre später wurde das abgelöst von einer genauso schonungslosen Kritik an System und Mensch, am Leben gehalten aber durch den immerwährenden Protest und den Appell zur Reflexion. Das Debüt ist dagegen limitiert auf das Dasein als Tatsachenbericht und Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die moralisch und gedanklich schwer im Minus ist.
Was nun den eindringlichen Charakter von Songs wie Faith In God oder White Trash (2nd Generation) ausmacht, ist nicht nur dieser jede Zukunft negierende Blick auf den Status Quo, sondern vor allem die abseits immer präsenter, kochender Wut beinahe emotionslose Präsentation. Ungeachtet der musikalischen Qualität, die in diesem Power-Chord-Festival mitsamt den dröhnenden Drums steckt, ist es die größte Leistung von Graffin und Kollegen, dass von Krieg, Hunger, Tod, Drogen, Gott und allem, was sich sonst greifen lässt, in einem beinahe klinischen Ton gesungen wird, zwar erbarmungslos in der Wortwahl, aber fast schon gleichgültig wirkend beim Blick auf den präsentierten Niedergang. Selbst der an die Dead Kennedys erinnernde zynische Unterton in Voice Of God Is Government ist eine relative Rarität, die, umringt von allem Schlechten, schon fast locker wirkt.
Das könnte allerdings auch in dem leichten Spannungsverlust begründet liegen, den die zweite Hälfte der LP erleidet. Man traut sich sowieso nicht über die 30-Minuten-Marke, muss aber trotzdem zur Kenntnis nehmen, dass Oligarchy nur mehr im Titel die Eindringlichkeit vermuten lässt, die noch ganz zu Beginn spürbar war. Weil Graffin da dann noch weniger wert darauf legt, einigermaßen verständlich ins Mikro zu schreien, Gurewitz musikalisch aber nicht daran denkt, an der schnellen und harten Gangart etwas zu ändern, gehen die gehaltvollen Minuten ein bisschen zur Neige, werden ersetzt durch kurzweilige Hooks, deren Potenzial beinahe grenzenlos wäre, wäre der Text fassbar und die Produktion nur eine klitzekleine Spur präsenter.
Und so, mit dem vielleicht längsten bisherigen Review für eines der kürzesten bisher reviewten Alben, geht es dem Ende entgegen. Wobei ich darauf bestehe, dass sich das Weltenende durchaus so viele Wörter verdient, vor allem, wenn es so passend und kraftvoll eingefangen wird wie hier von Bad Religion. Dass die mit der ohnehin kaum 72 Stunden umfassenden Studiozeit nicht so viel anzufangen wussten, ist da dank der Genrewahl auch gleich komplett egal. Im Gegenteil, die bittere Wahrheiten, die sich die Kalifornier gezimmert und auf "How Could Hell Be Any Worse?" zusammengefasst haben, werden am besten roh serviert. Da sind sie dann umso schwerer zu schlucken, ohne dass etwas hängen bleibt. Was neben mancher Zeile hängen bleibt, ist ein weiterer kleiner Mosaikstein auf dem Weg zur Bestätigung einer Theorie, die besagt, dass die 80er - nicht an der Oberfläche, aber doch - das punkigste Jahrzehnt gewesen sein dürften. Und wem das nicht taugt, der kann sich immerhin damit trösten, dass ein knapp dreiminütiger Höllenritt wie Fuck Armageddon...This Is Hell 25 Jahre nach der Entstehung eigentlich sehr, sehr, sehr richtig klingt. "They hide behind their lies that they are helping everyone"