von Kristoffer Leitgeb, 29.10.2016
Nach Jahren des Experimentierens gelingt ein Melting Pot des Rock, kommerziell und doch abenteuerlich.
Einem gestandenen Österreicher darf, wenn Südamerikas wirtschaftliche Perle, Argentinien, zur Sprache kommt, nur ein einziges Wort einfallen: Córdoba! Wie sind wir damals im 78er-Jahr nicht alle vor den Fernsehgeräten des Landes gepickt, um dem Schnauzerträger Krankl bei seinem Siegeszug gegen die Piefke zuzuschauen. Waren das nicht großartige Zeiten? Gut, manch verirrter Geist mag eher an die Thatcher Maggie denken und ihren Falkland-Krieg, einige wenige vielleicht gar an Evita Peron und daran, dass sie nie Don't Cry For Me Argentina gesungen hat. Aber das sind vernachlässigbare Zahlen. Noch unscheinbarer dürfte die Gruppe der Einheimischen sein, die irgendwann einmal von Babasónicos gehört haben. Auf den Namen reagiert man in Österreich am ehesten mit: Wos?! Dabei sind diese Herren, von denen drei Diego heißen - notwendiger Fußball-Bezug vorhanden -, mit das Prägendste, was der argentinische Rock in den letzten Jahrzehnten erleben durfte. "Jessico" bedeutete auch das kommerzielle Erwachen, nicht ohne Grund.
Es grundelt insbesondere dort, wo das neue Jahrtausend für die Rocker ihre bis dahin stromlinienförmigste und dementsprechend ideentechnisch wohl zahmste LP bereithielt. Man hat aber auch wirklich lange genug mit Funk, Psychedelic, Electronic und Hard Rock oder aber Country herumexperimentiert, um dann irgendwann einmal alles auf ein Album zu packen und es möglichst bekömmlich aufzubereiten. Und so gemütlich und doch engagiert, wie sich das alles hier hört, kann man der Band wohl ein "Mission accomplished"-Schildchen überreichen. Das Quintett wurzelt offenbar recht tief im Rock und diese Klassifizierung muss so vage bleiben, weil es relativ schwierig ist, das leichte Anklingen von Latin-Einflüssen im verträumt-harmonischen Tóxica und das finale Aufbäumen metallischer Riffs in Atomicum nach einem kleineren gemeinsamen Nenner abzusuchen. Und so bleibt es bei der Klassifizierung moderat poppiger Rock, die sich eigentlich schon Opener Los Calientes redlich verdient. Dabei kombiniert der Track geschickt die übriggebliebenen New Wave-Synthesizer mit klassischen Rock 'n' Roll-Klängen an der Gitarre und der einlullend sanften Stimme von Adrián Rodriguez. Das Ergebnis ist gleichermaßen geschmeidig wie doch noch in Zügen kantig.
Das lässt den Opener zumindest den Charakter der folgenden Songs sehr gut zusammenfassen. Mitnichten klingt aber alles gleich. Vor allem klingt nicht viel so sanftmütig wie dieser Start. Und das ist gut so, denn zur Topform findet die Band just in dem Song, der mit geschwinderer Gangart, Western-Touch und sporadischen harten Gitarrenwänden zum angriffigsten Moment der LP wird. Pendejo ist, abgesehen von der Chuzpe-Betitelung, auch ein kleiner musikalischer Mikrokosmos, in dem sich traditioneller Rock, Spuren von Country bis hin zu einer leichten Karikatur desselben und Erinnerungen an die brachialeren Weggefährten der frühen 70er - u.a. auch mit einem bluesig-psychedelischen Breakdown im Led Zeppelin-Stil - wiederfinden. Es ist nicht der einzige Track, dessen stark geformte Gitarrenexzesse einen Jahrzehnte zurückversetzen. Auch Soy Rock oder La Fox landen in ähnlichen Sphären, wenn auch keinem von beidem eine solche Durchschlagskraft und ein solch idealer Aufbau gegeben sind. Den hätte Delectrico, der die diesmal filigraner eingesetzte Country-Masche mit pochendem Beat und dem Hip-Hop naher Elektronik paart, schon eher zu bieten. Dort ist kompositionstechnisch Einfachheit Trumpf, doch der sparsame, pointierte Umgang mit der Synthetik und die starken Stimmeinsätze mitsamt unnatürlicher Verzerrungen lässt immer noch so manche Facette erkennen.
Während die Ideen nicht zwingend proportional zum Tempo abnehmen, machen einem die ruhigeren und langsameren Minuten hier doch das Leben etwas schwerer. Yoli und eben Tóxica schlagen sich dank ihrer Avancen in Richtung regionaler, latingeprägter Klänge gut, werden auch dank des Gesangs beinahe zu Dream-Pop-Songs, ohne dabei den rockigen Anstrich komplett vergessen machen zu können. Und obwohl Rubi und Camarin noch entspannter und verträumter klingen, schaffen es beide nur bedingt aus einem schläfrigen Dämmerzustand heraus. Das abgespeckte Gewand, der gezähmte Rhythm Section und das recht platte Gitarrenspiel lassen nur mehr bedingt zu, dass sich um die Vocals Atmosphäre und Interesse entwickeln. Allerdings lässt auch das aktivere El Loco zu wünschen übrig, hauptsächlich, weil sich zwischen den sphärischen Synths, Getrommel, sparsamem Gezupfe und Bläsern keine Harmonie aufbauen lässt.
Was etwas schade ist, denn dass sich auch im gesetzteren Ambiente durchaus Stärken auftun, beweist das Quintett auf "Jessico" sehr wohl. Zu selten allerdings, um die Löcher, die zwischen den rockigen Ausbrüchen verbleiben, alle zu stopfen. Deswegen marschieren die Argentinier auf ihrer sechsten LP nicht unbedingt auf Klassiker-Pfaden. Gleichzeitig bringt die Band jedoch stichhaltige Beweise für einige der Qualitäten vor, die ihr angerechnet werden. Im Rock verhaftet und mit dem Pop vermählt, ist "Jessico" trotzdem eine Mixtur der unterschiedlichsten Genre-Bröckerl, der eindeutig Harmonie und Abgeklärtheit anhaften. Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit werden die Österreicher auch weiterhin bei Argentinien zuerst einmal an Córdoba denken, Babasónicos werden daran vorerst wenig ändern. Aber der ein oder andere MusicManiac wird die Band ganz oben auf der Liste haben, wenn es um das Land geht, in dem Madonna einmal Präsidentin war.