von Kristoffer Leitgeb, 19.01.2016
Coming of age im Stile rockiger Melancholie.
Das Jahresende bringt für viele Menschen eine angeblich sehr schöne Zeit. Advent, Weihnachtsmärkte, Geschenkeinkäufe, Weihnachtslieder aller Farben und Formen, Punschräusche und am Ende ein frohes Fest. Potenziell ein bisserl zum Speiben, weil die Worte Ehrlichkeit und Ruhe innerhalb dieser gesellschaftlichen Riten wenig bis gar keinen Platz haben, aber der Spirit macht's ja. Noch wichtiger ist allerdings ohnehin, dass für den geneigten Reviewer jedes Mal, wenn der Silvester näherrückt, die Zeit der Rating-Reevaluierung gekommen ist. Fehler werden ausgebügelt, ehemalige 'Top-Alben' langsam in mildere Bewertungsregionen verabschiedet und das große Ganze, das die Musiksammlung darstellt, wieder etwas gerade gerückt. Und manche Alben gelten da jedes Jahr wieder als Abschusskandidaten, nur um doch noch einmal davonzukommen. "Under My Skin" ist genau so eine LP, bei der die Diskrepanz zwischen ambivalenter Außenbetrachtung und nicht zu leugnender innerer Werte zu Tage treten.
Vielleicht liegt das aber auch daran, dass man doch manchmal davor zurückscheut gewissen Werken Jubel zukommen zu lassen. Da gibt es Grenzen des Akzeptablen, die es der eigenen Meinung schwer
machen, denn das Kreuzfeuer der Kritik ist manchesmal nicht weit. Und seien wir ehrlich, es würde doch auch niemand Linkin Parks
"Meteora" einen 9er geben... Ja, soviel dazu.
Zurück zur holden Maid aus Kanada und damit zu einem Prozess des Erwachsenwerdens und der musikalischen Emanzipation. Diese Dinge verkörpert die zweite Lavigne-LP mit Sicherheit, ist doch der bei
Zeiten gar kindische Anstrich des Smash-Debüts eher Vergangenheitsmusik. Stattdessen gibt's Post-Grunge. Also eigentlich nicht so ganz, aber es klingt prägnanter als mäßig harter Alt-Rock mit
Pop-Hooks und markantem Power-Chord-Überhang. Egal, wie man es nun nennt, das Ergebnis sind Songs, die unabhängiger und introspektiver wirken als beinahe alles, was "Let Go" zu bieten hatte. Das
bringt einen Ernst und eine Wut mit sich, die schon im Opener Take Me Away rifftechnisch für ein paar eingerissene Wände sorgt. Viel mehr noch, es wird nämlich eine ziemlich
beeindruckende Darlegung melodischer Rock-Künste im depressiven Gewand daraus, die sich durch textlich prägnanten Minimalismus - und ein paar Platitüden - genauso auszeichnet wie durch eine
überragender Technik beraubter, geradliniger Gesangsperformance. Das sind deswegen äußerst positive Aspekte, weil sie die Politur des Kommerz-Pop weit genug von sich schieben, dass tatsächlich
charakterstarke Musik entstehen darf.
Gut, um mit etwaigen Missverständnissen aufzuräumen, sei sowohl die tatkräftige Unterstützung so manches Co-Songwriters erwähnt, wie auch die offensichtlichen Halbwahrheiten des Lebens einer
19-Jährigen, die das Album bestimmen. Das führt schon auch dazu, dass bei Zeiten Songs in ihrer naiven Natur steckenbleiben und nur mehr wenig zur Gesamtbilanz beitragen. Schon Leadsingle
Don't Tell Me tut sich da etwas schwer, markiert doch der Übergangstrack vom Debüt nicht nur einen der durchsichtigeren musikalischen Momente, sondern auch eine gar banale Abrechnung mit
der respektlosen Männerwelt. Dem gegenüber steht inmitten eines Gebräus aus dezent eingespielten Strophen und Kraftakten in den Refrains eine ziemlich mächtige Hook, die dem Pop-Handwerk alle
Ehre macht. Zumindest inhaltlich bleibt's aber bei dezenter Fragwürdigkeit.
Wirklich merkwürdig wird's dann allerdings gegen Ende, werden einem durchwegs düsteren Album doch mit dem nervigen Who Knows und dem durchschnittlichen, zumindest gitarrentechnisch
ordentlichen Freak Out zwei komplett deplatzierte lockere Wohlfühlnummern zugemutet. Mit urplötzlichen Erinnerungsstücken an ihre Durchbruchssingles liefert sie ganz schnell wieder
mäßigen Pop-Rock ab, der zwar hier rauer produziert wurde, aber trotzdem wirkungslos verpufft. Warum das passiert, bleibt im Verborgenen, insbesondere in Begleitung der umgebenden emotionalen
Höhepunkte wird diese Auswahl allerdings zur Fehlentscheidung schlechthin.
Dieser stehen aber auch einige gute gegenüber. Allen voran die für My Happy Ending als Single, denn nirgendwo kommt Lavigne dem perfekten Pop-Rock-Song der 00er-Jahre näher als hier. Als starke Symbiose einer gefühlsbetonten Gesangsperformance, gebotener musikalischer Härte und einem ultra-eingängigen Refrain bietet der Track alles, was es für umfassende Güte brauchen könnte. Immerhin gelingt es der Singer-Songwriterin, dem Hitpotenzial nicht zwangsläufig jeglichen emotionalen Inhalt zu opfern. Diesen Spagat schafft sie in ähnlicher Manier mit der ruhigeren Ballade Nobody's Home, in der sich, begleitet von markanten Riffs, unaufdringlich eingebauten Streichern und dominanten Drums, vor allem Lavigne bestens in Szene setzt und für einen persönlichen gesanglichen Höhepunkt sorgt. Wobei das Drama nicht nötig ist. Weder der berührende Abschiedsgruß an den eigenen Großvater, Slipped Away, noch das zwischen Akustik und Rock-Ballade schwebende Liebeskummer-Offenbarung Fall To Pieces müssen große Töne spucken, um der zweiten Hälfte noch einige wertvolle Minuten zu bescheren.
In diesem musikalischen Miniatur-Kosmos der Einsamkeit, verlorenen Liebe und vorgeschobenen Wut passiert der Kanadierin nur einmal ein wirklich positiver 'Ausrutscher', der sich tatsächlich auch lohnt. Wo nämlich Who Knows für Kopfschütteln sorgt, wird He Wasn't zum Vorboten für den Pop-Punk von "The Best Damn Thing", ohne dabei dessen Nervfaktor zu erreichen. Der Text ist natürlich ziemlich zum Vergessen - was erwartet man sich auch von einer Teenie-Abrechnung mit dem Ungeliebten? -, doch den beinahe knusprigen Riffs und dem Killer-Refrain entkommt man trotzdem schwer, auch wenn man sich dafür selbst nicht leiden kann.
Was aber vielleicht gar nicht so eine schlechte Voraussetzung für "Under My Skin" ist. Denn auf seine Art ist es ein Eingeständnis der eigenen Schwächen, der Verlorenheit und eines Nicht-wissen-wohin, ähnlich wie das die self-titled LP für blink-182 war und auf anderen Ebenen "Pinkerton" und Damien Rice' "O". Ob das dann immer noch kindisches Getue ist oder doch weit näher dran am Erwachsensein, sei dem Selbsturteil überlassen. Doch abgesehen vom präzisen und verhältnismäßig individuellen Rock-Handwerk, zeigt Lavigne hier auch zum einzigen Mal in ihrer Karriere die Fähigkeit, tatsächlich ein (beinahe) geschlossenes, atmosphärisches Album abzuliefern. Ohne zu nerven, ohne zu glitzern, ohne nur die Charts im Auge zu behalten und ohne sich dauernd im Ton zu vergreifen. Stattdessen bekommt man starke Rock-Songs mit mehr emotionalem Gehalt, als man ihr zutrauen würde.