von Kristoffer Leitgeb, 19.01.2018
Die Geister längst vergangener Tage präsentieren sich als überproduziertes Pop-Rock-Tagebuch.
Manche Menschen denken ja angeblich hin und wieder ganz gerne an ihre Kindheit zurück. An die schönen Tage mit Familie und Freunden, an den nervösen Zusammenbruch am ersten Schultag, an den gebrochenen Arm vom Fahrradunfall. Das Übliche eben. Der Reviewer vom Dienst denkt, wenn er sich denn den nostalgischen Unsinn abseits der lächerlichsten Kindergeschichten überhaupt antut, auch und vor allem an den damaligen Musikgeschmack und warum er so war. Was schwierig ist, wenn die Etappen unter anderem aus einer Schlümpfe-CD, dem mittlerweile sowieso sagenumwobenen Crazy Frog und irgendwo dazwischen Rammstein, Manu Chao oder der Jazz Gitti bestehen. Das bringt sich schwer auf einen Nenner und zwischen frühkindlicher Prägung und familiärer Vorbilder hätte selbst manch Freud-Anhänger Schwierigkeiten, so etwas wie den Crazy Frog auf das Hängenbleiben in der sexuellen Entwicklung zurückzuführen. Vielleicht darf man es auch nicht überrationalisieren - herzhaftes Lachen allenorts - und sollte ganz einfach "Let Go" genießen. Nur schaut dann kein Review heraus.
Außerdem ist das mit dem Genuss irgendwie dezent schwierig. Es ist ja schon ein Teilerfolg, dass mich einer der Lieblingssongs meiner Kindheit, Sk8er Boi, bis heute nicht ankotzt, sondern durch tapferes Meiden des Tracks sogar als starke Wiederentdeckung daherkommt. Also ganz so miserabel ist die Sache nicht. Nicht umsonst steht die LP bis heute ganz passabel da. Man ist eben nur nicht begeistert von dem, was da die meiste Zeit geboten wird. Dafür ist wiederum sicher nicht die musikalische Ausrichtung verantwortlich zu machen, die eben Sk8er Boi andeutet. Pop-Punk an sich hat zwar im Beliebtheitsranking auch bessere Zeiten gesehen, allerdings mit der sympathischen Scheiß-drauf-Einstellung einer 17-Jährigen Kanadierin, die damals wenig trendig, aber trotzdem cool mit unpassender Krawatte zum T-Shirt herumgelaufen ist, doch ein Erfolgsrezept. Textlich weniger, selbst wenn Taylor Swift mit ähnlich kindlichen Anwandlungen genauso eine Weltkarriere gestartet und ganze Alben gefüllt hat. Die Pseudo-Coolness, die das Geschwafel vom versnobbten Mädl und dem ignorierten Proto-Rockstar ausstrahlt, macht es zumindest nicht ganz aus. Nur haben die Verantwortlichen es hinbekommen, das Ganze in die passenden hellen Riffs zu pressen, die richtige Hook zu finden und Lavigne als vielversprechende Stimme zu präsentieren. Nur letzteres sollte ein bisschen ein Trugschluss sein.
Schwierig ist jetzt, dass der Rest ziemlich zahm daherkommt, selbst im Vergleich zum ohnehin eher niedlichen Aufstand, den die ehemals heißgeliebte Hitsingle markiert. Complicated zum Beispiel, das mag zwar irrsinnig erfolgreich gewesen sein, ist auch ganz bekömmliches Pop-Handwerk, macht aber bei genauerem Hinhören abseits des starken Drum-Sounds und der lockeren Akustik-Akkorde nicht so viel richtig, um ordentlich zu zünden. Die Sache dümpelt ein wenig dahin. Eine Teilschuld daran gebührt eigentlich allen Beteiligten. Lavigne für die unbekümmerte, aber selten wirklich überzeugende Gesangsvorstellung, den aushelfenden Songwritern für die Stromlinienform als kompositorische Allzweckwaffe und zuvorderst den Produzenten für den schon nach 15 Jahren angestaubt und höchstens am Papier erfrischend wirkenden Sound. "Let Go" ist zu oft gezwungen sonnig, zu oft auch in den ernsteren Moment ein großes Klischee, in dem sich die Emotionen fast ausschließlich aufbauen, um durch die ermüdende Laufzeit wieder abgebaut zu werden. Songs wie der erste offensichtliche Morissette-Gedenkmoment, Unwanted, oder das von Streichern gesäumte Too Much To Ask starten zwar vielversprechend, lassen aber keinen Zweifel daran, dass Lavigne wenig mit den Zeilen oder aber dem Arrangement anfangen kann, um irgendwo große Gefühle greifbar zu machen.
Jetzt könnte man meinen, gerade die gezwungen sonnigen Minuten sollten ihr besser stehen, weil eben doch zarte 17. Und das stimmt, nimmt man das unverfroren kitschige und gerade deswegen großartige Things I'll Never Say her. Das zündet, weil man geneigt ist, authentische Minuten zu hören und Lavigne zwar bei weitem nicht ihren gesanglich auffälligsten, aber ihren erfrischendsten Auftritt hat. Dass aber gleichzeitig nerviger Schmalspur-Gitarren-Pop wie Mobile oder My World auf der LP sind, trägt nicht dazu bei, dass man die lockere Seite der Kanadierin so wahnsinnig schätzen lernt. Dieser Hauch von Post-Grunge, der bei anderen Tracks immerhin spürbar ist, verflüchtigt sich da dann endgültig und lässt Songs zurück, die ihre Allerwelts-Hook zwar stolz vor sich her tragen, damit aber nur Minute für Minute nerviger werden. Wäre einer davon der Single-Hit gewesen, wir würden garantiert von einem der mühsamsten One-Hit-Wonder aller Zeiten reden.
Weil aber die Singles andere waren und darunter sowas wie I'm With You und Losing Grip zu finden ist, wendet sich das Blatt doch einigermaßen zum Guten. Ersteres überzeugt als bestarrangierter Track des Albums, in dem jeder Streichereinsatz perfekt platziert ist und Lavigne gerade auch dadurch zu ihren glasklar stärksten Vocals hier findet. Dass sich da dann genauso wie im rauen, emotionsgeladenen Abrechnungsopener Losing Grip die großen Gefühle von selbst aufbauen und von atmosphärischer Kraft die Rede sein kann, überrascht weniger. Vielleicht sollte man diese Erkenntnis und den guten Eindruck, der dadurch entsteht, nicht gleich dadurch bombardieren, dass man den Closer Naked als melodramatische Nichtigkeit der langatmigen Art bezeichnet. Andererseits unterstreicht ein solcher Fehlgriff auch gut, dass sich The Matrix, das damalige Team hinter Lavigne, für eine Komposition wie I'm With You zur Abwechslung wirklich fest auf die Schulter klopfen darf.
Für das Album als Ganzes kann das so nicht gelten. Dazu ist "Let Go" auch zu sehr klassisches Pop-Debüt. Jetzt weniger musikalisch, wobei der teils lockere, teils belastete Rock-Unterboden, auf dem hier alles passiert, allein produktionstechnisch so sehr nach den frühen 00er-Jahren schreit, dass es mitunter weh tut. In dieser Hinsicht ist zumindest sicher, dass man bei Lavignes erstem Auftritt nie von einem zeitlosen sprechen wird, weil die allzu vorsichtig eingeflochtenen Synthesizer und die kristallklar überproduzierten Akustikgitarren zu sehr nach diesen Jahren riechen. Noch ein bisschen schmerzhafter ist aber das Stimmungsdurcheinander, das man der Kanadierin vielleicht, vielleicht auch nicht aufgezwungen hat. Da wird hemmungslos zwischen dramatischen Liebeskummer und sorglosem Weltentdecker-Gedudel herumgesprungen. Macht nicht den besten Eindruck, ist aber verständlich. Wichtiger ist sowieso, dass Lavigne auf dem Drahtseil zwischen Nervigkeit und talentierter Natürlichkeit herumbalanciert, ohne dabei abzustürzen. Damit muss auch nicht gleich die ganze musikalische Kindheit hinterfragt werden und sowas wie Sk8er Boi darf weiter bedenkenlos aufgedreht werden.