von Kristoffer Leitgeb, 04.11.2016
Die einzige Eigenschaft des Pop, die er wirklich zu beherrschen scheint, ist die unablässige Penetranz.
Der Pop an sich ist ja nicht so wirklich ein Genre. Kurz lassen wir uns, um das zu erötern, auf das Gedankenexperiment ein, dass Genres wirklich irgendeine Relevanz abseits ihrer Funktion zur Katalogisierung hätten. In diesem Experiment findet man nun diese Genres, manche von ihnen einem Schrebergarten gleich, radikal abgegrenzt und bis in den Tod verteidigt, mit ihren Eigenheiten und musikalischen Charakteristika. Die sind schwammig at best und lassen einen unweigerlich zurück in einem Schlachtfeld unübersichtlicher Grenzbereiche, die niemandem recht sind. Diesem entzieht sich der Pop dadurch, dass er wegen seiner äußerst vagen Definition viel mehr eine Metakategorisierung darstellt, erhaben thronend über diesen mickrigen Sprengeln der Musikwelt. Der Pop kann nämlich mit fast allem und jedem, das muss spätestens seit dem erstmaligen Aufkommen des Begriffs "Avantgarde-Pop" - ein herrliches Paradoxon - klar sein. Ergo muss er doch auch mit EDM und House zurechtkommen, die Schnittmenge wird ja ohnehin nicht kleiner. Es braucht allerdings immer noch den passenden Musikus dafür.
Tim Bergling, Schwedens Antwort auf eigentlich eh niemanden, wollte das bereits mit "True" sein. Sofern ihm das gelungen ist, dann überhaupt nur mit tatkräftiger Unterstützung. Jetzt werden die Hilfsleistungen nicht urplötzlich weniger; es wäre auch unverantwortlich, weil Avicii weder das nötige stimmliche Rüstzeug mitbringt, noch interessant genug musiziert, um ein Instrumentalalbum in die Nähe eines ordentlichen Wirkungsgrades zu befördern. Also Elektronik-Pop-Songs mit nettem Gesang, allerlei Genre-Drohgebärden, die eigentlich kaum über ein Knurren hinauskommen, und schon vorweg das Fazit, dass die schwedische Ansammlung von Klischees und lautstärkenüberdrehter Aufdringlichkeit dezent nervig ist. Man würde nun denken, ganz zu Anfang ist das noch nicht so drastisch. Weil aber unbedingt Leadsingle Waiting For Love eröffnen muss, selbige jedoch eine aalglatte, ziemlich biedere und klanglich zwischen billiger One-Tempi-Orgel und unsphärischer Überproduktion steckende Unstimmungshymne darstellt, wird das nichts. Wobei auch daraus keine fundamentale Grässlichkeit spricht, sondern schlicht und einfach Pop-Handwerk der ziemlich nichtsnutzigen Art.
Es gibt natürlich jene, die meinen, das beschreibt Avicii insgesamt ganz gut, aber er kann schon auch besser. Nicht, ohne entweder sehr nah an den Vorbildern zu bleiben oder den Vordergrund anderen zu überlassen, trotzdem geht was. Nach klassischem Kalt-Warm-Prinzip sogar direkt nach dem Opener und dann überhaupt mit den besten Minuten, die von ihm bisher gekommen sind. Talk To Myself könnte natürlich trotz weniger nuancierter Umsetzung direkt aus dem französischen Daft Punk-Lager kommen, nur haben sich diese beiden in ihrer exzentrischen Art selten eine solche Direktheit und Geradlinigkeit erlaubt, wie es Bergling hier macht. Und so begegnet einem noch immer oft genug sein "Swoosh"-Effekt, den er unerklärlicherweise so lieb gewonnen hat, aber eben auch flimmernde Synths und Streicherimitate, die zusammen mit den mal leicht souligen, mal vocoderverzerrten Gesängen von Sterling Fox und unterrepräsentierten Gitarrenlicks eine starke Erinnerung an die Disco-Ära ergeben. Eine Prise Funk scheint für ihn überhaupt durchaus hilfreich zu sein, zumindest kommt ähnliches auch in Pure Grinding durchaus gut rüber. Auch wenn in dem abrupten Wechsel seines Synth-tries-funky-Gemischs zu reinen Beat- und Gesangspassagen wenig Grazie steckt, bleibt immerhin eine gewisse Lockerheit erhalten, die sonst sehr wenig anhaftet.
Zumindest driftet diese dann mitunter in eine stumpfsinnige Lockerheit ab, die einem schon mit dem Titel zuwider ist. Wie soll man auch an einen Song wie Sunset Jesus ohne Vorbehalte
herangehen, wenn man erst einmal diesen Namen kennt? Im Vergleich dazu ist das banale Keyboard-Gedudel eigentlich eh sehr harmlos, obwohl in Verbindung mit den Pseudo-Riffs auch entsprechend
kitschig unterwegs. Es bleibt eben oft recht wenig über, wenn man die Tracks einem zweiten oder dritten Durchlauf unterzieht. Was nicht zwingend an der Komponistenfront verschuldet wurde, in
Wirklichkeit wirken einige Minuten hier besser angedacht als auf dem Debüt. Aber die Umsetzung passiert so hölzern und doch so unausweichlich durchdringend. Broken Arrows nähert sich mit
Zac Browns angenehmer Stimme und dezenten Strophen höheren Qualitätsstufen an, ähnlich wie For A Better Day oder sogar die offensichtliche Wake Up-Reproduktion Trouble.
Berglings auf infinite Eingängigkeit getrimmte Key- und Synth-Parts kommen aber mitunter so unvermittelt, so dröhnend und hemdsärmlig grob daher, dass starke Ideen in der Umsetzung Platz machen
müssen für ziemlich durchschnittliche Ergebnisse. Da kann schon einmal eine gute Hook rausschauen wie die von For A Better Day, man wird nichtsdestotrotz zu oft und zu direkt mit Kitsch
und Penetranz konfrontiert.
Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass der DJ sich in Wirklichkeit noch immer recht wenige Aussetzer leistet. Er schwimmt auf sehr mäßigem Niveau, aber dem Untergang nahe ist er nach dem Opener
selten. Konsequent genug ist der Schwede, dass der Closer ähnlich mies ist, als Konglomerat merkwürdiger Soundbits aus dem Tropical House, kratzigeren Elektronikspielereien und zu Beginn gar
Marching Drums trotz Titel Gonna Love Ya unfassbar unatmosphärisch gerät.
Die Annahme, dass es für ihn schwer anders geht, schwebt über allem. Aviciis Musik ist verdammt weit weg von Emotionen jeglicher Art, was ihn natürlich ohne die richtigen Handgriffe bei der Songproduktion schnell in die Fadesse versinken lässt. Nur Wyclef Jean und Matisyahu können das mit vereinten Kräften ausbügeln und sorgen in Can't Catch Me für einen reichlich süßlichen, aber netten Anflug von Reggae-Rhythmen. Das wirkt zwar latent deplatziert auf einer LP, die gar nicht so vielfältig ist, wie es mancher versuchte Genreausflug nahelegen würde, vielleicht ist das auf "Stories" aber ohnehin nichts Schlechtes. Denn so sehr, wie sich der Geschichtenreichtum hier in Grenzen hält, so ähnlich verhält es sich auch mit der Trefferquote des Schweden. Etwas Ehrenwertes haftet diesem Versuch, EDM - in Wahrheit Elektronik-Pop - mit allen möglichen, greifbaren Genres irgendwie zu verbinden, ja doch an. Nur wird man den Eindruck nicht los, dass selbst eine Reihe namhafter Mitkomponisten und -musiker nicht genug sind, um Avicii diese Genres wirklich ausreichend näher zu bringen. Er klingt nämlich oft ziemlich gleich und das verhindert den Weg von so manchem Konzept zum erfolgreichen Song. Was uns zur alten Weisheit bringt: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Also, EDMler bleib bei... bleib einfach ab jetzt.