von Mathias Haden, 04.05.2017
Dem prunkvoll ausstaffierten Art-Disco-Monolithen fehlt es an Maß und Tiefe.
Bald drei Jahre ist es her, dass ich den Kanadiern von Arcade Fire die imaginäre Krone überreichen, die Band in den Adelsstand erheben wollte. Da hatte ihr Debüt Funeral bereits eine ganze Dekade und einen Alterungsprozess wie ein exquisiter Wein hinter sich. Im April 2017, im chinesischen Jahr des Hahns, ist jedenfalls nichts von der Magie des Erstwerks verblasst, ganz im Gegenteil. Und doch ist man sich trotz mächtigem Respekt vor der Band nicht so recht sicher, ob sie beim womöglich noch heuer veröffentlichten fünften Album oder auch irgendwann anders in der Zukunft an vergangene Großtaten anknüpfen kann. Ein wenig basiert diese Skepsis auch auf der letzten, mittlerweile ebenfalls verjährten Veröffentlichung Reflektor. Diese Platte, die Disco und Funk, Kunst und Poesie vereinen, damit auf zwei LPs die Größe der Band auf eine neue Metaebene zu heben gedachte. Die überwiegende Mehrheit der Kritiker feierte, die Hipster hatten endlich wieder Grund zum Jauchzen, doch wurde man den Eindruck nicht los, als wären einige der Preisungen bereits vor dem Kontakt mit dem Album abgetippt worden. Arcade Fire eben. Die Könige der Noughties.
Zudem man sich bei einem Werk wie Reflektor, diesem komplexen, angeblich von einer Publizierung Søren Kierkegaards, Marcel Camus legendärem Palme d'Or-Gewinner-Film "Black Orphus" und der Musik aus Haiti beeinflussten Monolithen, bei angezogener Euphoriebremse rasch den Vorwurf gefallen lassen muss, etwas nicht verstanden zu haben. Dabei ist vor allem der umjubelte Titeltrack, der das Album über sieben Minuten eröffnen darf, so schwer zu verstehen nicht. In ihrem rotierenden Disco-Gewand wabern die vielschichtigen Sounds der Lead-Single zwischen präsenten Percussions, ätherischen Synthesizern und lauernden Drums. Dazwischen noch der eine oder andere pointierte Riff, Klaviertupfer oder Hornfanfare, umgarnt von einem effektvollen Ausbruch auf halbem Wege und Régine Chassagnes wie immer beherztem Zutun als Sängerin. Und Schwupps, haben die Käseblätter ihre Single des Jahres. Wie auch immer, ist ja auch absolut nicht zu verachten, dieser ungezähmte Art-Disco-Banger. Vor allem ist die Nummer aber erfolgreich darin, nach drei stilistisch zumindest ansatzweise in Verbindung stehenden Alben die Erwartungshaltung in eine ganz andere Richtung zu lenken und für weitere Soundexperimente zu sensibilisieren.
Etwa für die schwelgerisch verträumte Atmosphäre, die besonders weite Strecken der zweiten LP umhüllt. Leider sind die Ergebnisse hier ambivalenter Natur. Auf der einen Seite die beiden späten Highlights Awful Sound (Oh Eurydice) und It's Never Over (Hey Orphus), die nicht nur jenem lohnende Minuten bereiten, der ein Faible für die antike Mythologie hegt, sondern mit verschrobener Lyrik und majestätischem Keyboard-Glimmer überzeugen. Während es bei Ersterem seine zurückgelehnte Melancholie ist, die nach einer aufgedreht fordernden ersten LP wie Balsam auf der Seele anmutet, ist es bei Letzterem sein hypnotischer Groove, der zu gefallen weiß. Auf der anderen Seite warten mit dem monotonen Pop-Synthgebilde Porno und dem elfminütigen Supersymmetry, das sich bereits nach kurzer Zeit in ein schier endloses und gleichermaßen träges Outro verabschiedet, auch schwer verdauliche Kost. Dort offenbart sich auch, was sich die längste Zeit von Reflektor bereits angedeutet hat: so versiert die künstlerische Vision und der musikalische Schmelz der LP auch sein mögen, so wenig wirklich gute Songs fördert sie eigentlich zutage.
Was nichts daran ändert, dass die 75 Minuten von teils exzellenten Darbietungen gesäumt werden. Man nehme etwa die brachiale Bass-Line von Joan Of Arc, die es zuwege bringt, eine knapp überdurchschnittliche Komposition beinahe im Alleingang zu einem Favoriten aufzuwerten. Auch Einflüsse aus Dub und Reggae werden ebenso gekonnt verarbeitet, wie leichte Disintegration-Anleihen auf den langsameren Nummern - zudem das Zusammenspiel von Melodie und Rhythmik nicht zuletzt dank der dominanten Percussions gelegentlich auch Remain In Light der Talking Heads ins Gedächtnis ruft. Für mehr als Respekt reicht es meistens dann aber doch nicht, weil selbst die konstantere erste LP-Seite trotz verhältnismäßig straighteren Auftritten und erdigeren Arrangements nicht über teils uninteressante lyrische Ausritte und einem leicht krampfhaft anmutenden Anspruch auf Größe und Weltlichkeit hinauskommt. Da hilft es auch nur partiell, dass mit We Exist eine Klassenummer mit mächtigem Bass und exzellenter Mischung aus donnernden Drums, orchestraler Pracht und flimmernden Keyboards bereitsteht, mit Flashbulb Eyes ein nichtssagendes, aber spannendes Soundexperiment und mit Here Comes The Night Time eine schwungvolle, an den Karneval erinnernde Gute-Laune-Nummer mit karibischen Wurzeln am Start sind.
Eben auch und jetzt ist es endlich gesagt, weil Reflektor letztlich doch weniger als die Summe seiner exzentrischen, aber letztlich doch lohnenden Einzelteile ist. Für sich selbst genommen, wissen nämlich die meisten der dreizehn Tracks auf irgendeiner Ebene zu charmieren. Hinzu kommt, dass mit einer durchschnittlichen Spieldauer von knapp 6 Minuten vieles künstlich gestreckt und ausgetreten wirkt, vielversprechende Ansätze durch ihre überambitionierten Längen große Spannungs- und Intensitätseinbüßen in Kauf nehmen müssen - diese letztlich allerdings nicht verkraften. Sei es wie es ist, Arcade Fire haben es sich verdient, nach drei Alben in ähnlichem Metier neue Pfade zu beschreiten. Dass daran auch schon die besten gescheitert sind, durften nun selbst die erfolgsverwöhnten Kanadier spüren. Oder auch nicht, die Hipster jauchzen ja nach wie vor.