von Mathias Haden, 27.11.2014
Eine zauberhafte Reise durch pompöse Arrangements, sinnliche Tragik und ein Gespann, das sich nach nur einem Album die Krone aufsetzen darf.
Die Karriere von Arcade Fire lässt sich am besten mit einem Wort beschreiben: _______. Welches hier hineingehört, das könnt ihr selbst, jeder für sich, entscheiden. Meine Wahl fiele wohl auf fulminant. Nicht viele andere Gruppen seit dem Millennium konnten Hipster und Kritiker gleichermaßen überzeugen wie dieses kanadische Ensemble. Mit ihren ersten beiden Alben gewannen sie unsere Herzen, mit der massenkompatibleren dritten LP schlich sich auch noch der kommerzielle Erfolg durch die Hintertür, der den Weg zu einem riesigen Hype um den vierten Release ebnete. Auch deshalb zählt das Gespann um die Butler-Brüder zum Aufregendsten und Besten, was uns das Internet (hallo Pitchfork) in den letzten Jahren als 'Indie' verkaufen wollte.
Begeben wir uns nun zurück an den Anfang, in eine Zeit, als der Name Arcade Fire abseits von kanadischen Hipsterforen nicht mehr als eine selbstbetitelte, wenig überschwänglich aufgenommene EP bedeutete und der Weblog sich erst am Weg zu seinem heutigen Status befand, sprich: vom Internetrummel von Reflektor keine Spur. Ihr könnt es freilich nicht ahnen, aber ich lache gerade herzhaft. Zum einen bedarf es mittlerweile einiger Fantasie, sich ein Album der Band vorzustellen, das nicht schon im Voraus heiß antizipiert wird, zum anderen erfreue ich mich einfach nur der angenehmen Lage, hier und heute über das Debütalbum Funeral schreiben zu dürfen.
Denn eines ist gewiss: Kein Album aus den letzten zwanzig Jahren verdient die Wertschätzung so sehr wie dieses, nicht viele andere feiere ich als bekennender Anti-Alkoholiker mit Champagner und Kaviar. Dabei lassen die Hintergründe der LP gar nicht viel Spielraum für Freude, der Name entsprang nämlich der traurigen Fügung einiger kürzlich verstorbener Verwandter der Bandmitglieder.
Wie sollte man aber auch etwas anderes als lodernde Euphorie empfinden, bei einem Opener wie Neighborhood #1 (Tunnels). Eine verträumte Pianosequenz eröffnet das Spektakel, ehe ein treibender Rhythmus die kleine Bühne, auf der sich Win Butler nicht zum letzten Mal in seiner Hingabe verlieren soll, zum Beben bringt und selbst ein herrlich arrangiertes Arsenal an Instrumenten den Fokus nicht vom mächtig ambitionierten Protagonisten lenken kann. Nur der erste große Streich eines märchenhaften Triumphzuges und nur der erste der vierteiligen Neighborhood-Reihe.
Die anderen drei sind nicht minder ausgefallen und perfekt arrangiert. Auf Laïka, dem zweiten Teil, kontrastieren Akkordeon und knarzende Gitarren eine ganz eigene Atmosphäre, die mitreißenden, mehrstimmigen Gesangparts, bei denen Butler seine aggressivste Seite zeigt, und die Streicher führen auch diese Nummer zum Sieg. Mit Power (#3) zeigen sich die Kanadier von ihrer wuchtigsten Seite, hier geht mit voranpreschendem Rhythmus und dramatisch musikalischem Spektakel zwischen entfesselten Gitarren und lieblichen Xylophonklängen wahrlich die Post ab, Butler und seine Gattin, die weibliche Gesangsstimme (und ebenfalls Multiinstrumentalistin) Régine Chassagne, hat man in diesem Punkt ohnehin schon längst ins Herz geschlossen.
Dazu gibt es mit Kettles (#4) noch einen ruhigen Gegenpol, der den Nachbarschaftszyklus souverän schließt. In verträumter Atmosphäre und mit schönen Streichern augmentiert, erinnert diese vergleichsweise simple Ballade an einen wundervollen Winter, zudem hat Butler wie so oft hier einige magisch schöne Zeilen parat:
“It's not a lover I want no more
And it's not heaven I'm pining for
But there's some spirit I used to know
That's been drowned out by the radio”
Abseits der Neighborhood’schen Tetralogie gibt es aber noch sehr viel schönes, das die Band hier zu bieten hat. Etwa die melancholisch französische Ballade Une Année Sans Lumiere, die auf träumerischer Melodie schwebend zurückhaltend ruhig beginnt, um sich gegen Ende noch in wild rockenden Gitarren zu wähnen. Crown Of Love, eine erfreulich kitschfreie Liebesballade ist ebenfalls vorwiegend ruhig gehalten, wird mit jedem Moment euphorischer und intensiver, verliert seine zarten Streicher schließlich auch an eine rockende Up-Tempo-Nummer. Immer wenn man schon das Gefühl hat, jetzt könnten Arcade Fire endlich mal in so etwas wie Monotonie verfallen, ziehen sie das nächste Ass aus dem Ärmel und sorgen für die nötige Abwechslung und Unterhaltung.
Mit Wake Up gibt’s schließlich noch das, was man unter einer bandeigenen Hymne verstehen könnte. Seit jeher ein Konzertfavorit, ist diese passioniert vorgetragene Mitsingnummer mit der mitreißenden Melodie nicht umsonst eines ihrer bekanntesten Stücke und mit Rebellion (Lies) habe ich noch einen weiteren Kracher bis zum Schluss aufgehoben. Hier stimmt wieder einmal alles: Unglaublich packender und zum Tanzen einladender Rhythmus, großartiger Text, ein Sänger, der zu diesem Zeitpunkt schon im Pop-Olymp angekommen ist und erneut perfekt arrangiert. Mehr muss ich nicht sagen, mehr werde ich auch nicht.
Die Suche nach Ungereimtheiten kommt in diesem Fall der berühmtberüchtigten Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich. Würde ich allerdings mit einer Pistole im Rücken bedroht werden, könnte ich bestenfalls noch die beiden von Chassagne vorgetragenen Tracks Haïti und In The Backseat an den Pranger stellen, beide freilich fraglos sehr schön intoniert und instrumentiert. Zumindest dem beschwingten Erstgenannten fehlt es aber im Gesang an der Konsequenz und Souveränität, die Kollege Butler in jeder Sekunde ausstrahlt, während letzterer als Björk-esquer, atmosphärischer Schlusspunkt über seine kleinen Makel hinwegtäuscht und ein grandioses Album mustergültig abschließt.
So endet nun eine zauberhafte Reise durch pompöse Arrangements, sinnliche Tragik und ein Künstlergespann, das sich bereits nach einem Album die Krone aufsetzen darf. Inmitten von Streichern, Bläsern, Chor und wärmenden Klavier- und Glockenspielklängen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und aufopfernd vorgetragener Erzählung wie nie zuvor. Ein Freund verglich Funeral einst mit dem 'Wellengang auf offenem Meer', dem kann ich jedenfalls nur zustimmen.
Mein Lachen ist übrigens mittlerweile einem zufriedenen Grinsen gewichen. Ich darf das, immerhin habe ich gerade über eines der schönsten Alben geschrieben, die mir bislang untergekommen sind; außerdem scheint die Sonne. Da nimmt man es mir auch nicht übel, den Umfang etwas gesprengt zu haben, right?
Anspiel-Tipps: