von Kristoffer Leitgeb, 01.11.2020
Songwriter-Pop, der Gefühl und Fremdschämen, Eigenheit und Austauschbarkeit gleichermaßen kann.
Wenn sich wirklich erfolgreiche Bands ausdrücklich damit rühmen, dass sie immer ihren eigenen Weg gegangen sind und es ohne große Labels und die Medien nach oben geschafft haben, muss man das tunlichst mit etwas Vorsicht aufnehmen. Natürlich kann das durchaus den Tatsachen entsprechen, wenn man irgendwann ganz oben steht, nachdem man sich in mühsamer Kleinarbeit bei Mini-Konzerten und im Internet langsam, aber stetig seine Fans gesichert hat. Oder wenn man plötzlich aus dem Nichts zum YouTube-Phänomen wird. Darauf herumzureiten klingt allerdings dann oft mächtig nach Rechtfertigungsversuchen und einer Ablenkung davon, dass man vielleicht musikalisch doch gar nicht so einzigartig und eigensinnig ist, wie es wohl besser wäre. Wer musikalisch sein ganz eigenes Süppchen kocht, braucht sich ja nicht darauf konzentrieren, wie er das alles unabhängig von Medien und Labels geschafft hat, außer der Kampf gegen das Kapital und den künstlerischen Mainstream ist offensichtlicher Teil der Band-DNA. Betont man jedoch, wie eigenständig man es nach oben geschafft hat, während man musikalisch so sehr der Masse zuspielt, wie nur möglich, macht das misstrauisch. So auch bei AnnenMayKantereit, deren tatsächlich abenteuerlustiger und unabhängiger Weg an die Chartspitze Deutschlands nicht wirklich Niederschlag gefunden hat in dem, was die Band auf ihrer so erfolgreichen Debüt-LP so an Konventionellem veranstaltet hat. "Schlagschatten" ist als Nachfolger nicht anders, bringt die gegensätzlichen Pole der Band aber noch deutlicher zur Geltung.
Das wird wohl auch damit in Zusammenhang stehen, dass die Deutschen eben doch nicht ganz herkömmlich an die Sache herangehen. Nach dem überraschenden Durchbruch und Festivals hier und da setzte man sich aus der deutschen Heimat ab und nahm in der spanischen Pampa auf, wo sich sonst Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Die Abgeschiedenheit und der Aufenthalt in der unbekannten Ferne sollten den gewohnten Stil jetzt nicht komplett über Bord werfen, aber ihn wohl doch etwas eigener machen und vertiefen. Für wohlwollende Ohren ist das definitiv gelungen. Zwar sind AnnenMayKantereit immer noch eine Band, die effektiv aus dem kernigen, alkoholgestählt anklingenden Sprechgesang von Frontmann Henning May und sonst nicht viel außer herkömmlicher, indiepoppiger Begleitung dessen, aber ein bisschen kantiger ist die Sache dennoch geworden. Nichtsdestotrotz ergeben sich Parallelen zum österreichischen Pop-Phänomen der 10er, Wanda, deren klangliche Prägnanz und interessante Aufmachung dort endet, wo die kratzige Stimme des Frontmanns aufhört. AnnenMayKantereit bauen aber immerhin nicht auf den versucht rockigen "Charme", verzichten auf die zum Kopfschütteln anregenden textlichen Ergüsse zwischen Hedonismus, hingerotzter Pseudo-Emotionalität, Alkohol und "Baby"-Kanonaden. Ersetzt wird das leider durch ein Faible für schwülstige, aber unförmige Gefühlsladungen, die irgendwo im Territorium von Revolverheld wildern. Das ist kaum eine Verbesserung, wenn es denn nicht wirklich gut gemacht ist.
Im Falle von "Schlagschatten" gelingt wirklich gut nur selten. Die allzu spannungsfreie Vermengung von akzentarmer Instrumentierung, aus der am ehesten noch hier und da die Drums und das oft dominante Klavier ausbrechen, und zwischen Nostalgie und genereller Verlorenheit, zwischen Romantik und Selbstfindung wandelnden Texten ergibt hauptsächlich eine recht durchschnittliche Suppe. Nett anzuhören, vor allem weil die Band durchaus ein Händchen für gute Melodien beweist, wie sie etwa Leadsingle und Opener Marie mitbringt. Dessen eröffnende Zeile "Die Vögel scheißen vom Himmel" ist dann zwar ein starker Anfang, aber auch der Gipfel der Prägnanz. Im Opener steigt man darauf noch ein und verliert sich ein bisschen in der harmonieseligen Beschwingtheit und der bedeutungsschwangeren und doch gewollt eigen klingenden, melancholischen Zeilen von May. Das geht schon gut runter in kleinen Dosen, wenn dann auch noch dazu kommt, dass das Bandgefüge offensichtlichst ein gewachsenes ist, alles dementsprechend harmonisch und stimmig eingespielt wird, während darüber das stimmliche Reibeisen thront.
Im Verbund eines Albums wird man dessen aber etwas müde, weil sich nicht alles melodisch derartig stark präsentiert, dazu May textlich keine Balance findet und deswegen dazu neigt, sich wiederholende Banalitäten oder merkwürdige Metaphern zu zelebrieren. Das macht die gewünschte Atmosphäre nicht unbedingt intensiver, eher im Gegenteil. Und deswegen sind Songs wie In Meinem Bett, Du Bist Anders oder Vielleicht Vielleicht zwar durchaus anzuhören, positive Eindrücke kann man daraus aber kaum mitnehmen. Angenehme Durchschnittsware, die inhaltlich entgegen anders lautender Kritiken durchaus einiges richtig macht, wenn sie sich auf persönliche und intime Dinge konzentriert, anstatt sich in großen Themen zu verlieren. Man könnte eben nur deutlich besser mit diesen Themen umgehen.
Dass das für die Deutschen sehr wohl auch in Griffweite ist, wird ja ohnehin sporadisch bewiesen. Hinter Klugen Sätzen baut auf einer störrischen, aber wirksamen Klaviermelodie auf, paart die klangliche Schwere kontraststark mit tänzelnden Akkorden im Refrain und findet vor allem textlich den richtigen, selbstkritischen Ton. Alle Fragen kann als einzige der wirklich langsamen, schleppenden Nummern wirklich überzeugen, weil der nüchterne, der oft nostalgischen Note der Band widersprechende Blick auf den Trip zurück in die frühere Heimat davon sogar noch profitiert. Da kommt die Tristesse zwischen Entfremdung und der wehmütigen Erinnerung an eine alte Liebe schön zur Geltung, die May stark besingt:
"Du fährst in die Heimat
Und alles wird leiser
Und irgendwie kleiner
Du fährst in die Heimat
Du glaubst mittlerweile
Dass hier alle den Schein wahren
Das Erste, was dir auffällt
Wenn du endlich ankommst
Ist Vergangenheit
Das Zweite, was dir auffällt
Wenn du dich dann umschaust
Ist Veränderung
Das Dritte, was dir auffällt
Wenn du aussteigst
Ist, dass du alleine bist"
Weil die Sentimentalität dann aber doch nicht alles ist, beweist auch die Band zumindest einmal sehr gelungen, dass sie auch anders kann. Ich Geh Heut Nicht Mehr Tanzen gibt sich jetzt zwar nicht unbeschwert, paart die Absage an Party und Sorglosigkeit aber mit starker musikalischer Ironie in Form des tanzbarsten Songs, den die Band je geschaffen hat. Früh werden die hellen Gitarrenakkorde gestört von einem stampfenden Drumbeat, dazu gesellt sich ein funkig angehauchte, großartige Bassline und ein paar lockere E-Gitarrenriffs, um die verwahrloste, zerstörte Atmosphäre des Texts ideal zu konterkarieren.
Leider ist jedoch der Rest nicht dazu geeignet, diese wirklich positiven Ausreißer ausreichend zu unterstützen. Wenig ist so zäh und verfehlt produziert wie Sieben Jahre, mitreißend oder tief emotional erscheinen einem viele Songs hier aber auch nicht gerade. Da ist es egal, ob in ungewohnt lauter Manier versucht wird, ein bisschen den freitäglichen Hedonismus zu persiflieren, ob in Schon Krass möglichst sentimental, anfangs in fast Peter Maffay in Erinnerung rufender Manier die Drogensucht thematisiert wird oder ob man mit Weiße Wand gleich das delikate Thema Rassismus aufgreift. Letzteres hätte musikalisch definitiv das meiste Potenzial, kommt mit starker Stop-and-Go-Melodie daher, offenbart aber zu oft textliche Schwächen zwischen Plattitüden und absurden Verrenkungen.
Und so ist es letztlich, was es ist: Ein durchschnittliches Pop-Album, mal in althergebrachter Songwriter-Manier, mal rockiger, mal auch einfach nur in Form von gefahrlosem Sportfreunde-Stiller-Pop. Ähnlich wie die meist ungefährlichen Bayern tun auch AnnenMayKantereit hier nie wirklich weh. Eigentlich sogar seltener, weil man sich auf "Schlagschatten" nicht mit kompletten Geschmacksverirrungen oder schmerzhaft pseudo-lustigen Absurditäten konfrontiert sieht. Stattdessen sind die Songs hier fest verwurzelt in einer Mischung aus Wehmut, Nostalgie, Zweifel und ein wenig Selbstmitleid. Eine Mischung, die durchaus mehr Potenzial hätte, genauso wie auch der oft genug ansprechende Sound der Band, die es durchaus versteht, mit guten Melodien zu jonglieren und ihren markanten Frontmann in Szene zu setzen. Meistens bekommt man von diesen Fähigkeiten aber zu wenig mit und ist stattdessen damit konfrontiert, dass man zwischen den guten klanglichen und inhaltlichen Anlagen immer wieder mit Fehlgriffen textlicher Art und fehlenden musikalischen Akzenten leben muss. Das zieht viele Songs runter und so auch das ganze Album, das ultimativ gerade genug starkes Material bietet, um damit eine sehr ansprechende EP füllen zu können. Nachdem die üblicherweise nicht aus 14 Songs besteht, dürfte klar sein, warum sich das auf "Schlagschatten" nicht so ganz ausgeht.