von Mathias Haden, 19.02.2016
Der Sog von Trübsinn und ungeahnter Schönheit bewirkt bereits am Debüt vigoröse Strömungen.
Wäre ich in der Position, Trophäen für die besten Singer-Songwriter des Jahres verteilen zu können, es dürfte sich wohl jedes Jahr die zauberhafte Angel Olsen über die renommierte Auszeichnung freuen - vorausgesetzt, die Amerikanerin hätte im jeweiligen Jahr in irgendeiner Form durch Aktivität auf sich aufmerksam gemacht. Wie könnte ich, ihrem Charme nach lediglich zwei Solo-LPs längst verfallen, aber auch anders? Kein anderer Künstler versteht es, mit einfachsten Mitteln eine vergleichbar dichte Atmosphäre, die einen direkt ins Geschehen saugt, zu erzeugen, kein anderer beherrscht die hohe Kunst der sinnlichen Worte so wie die Sängerin aus Missouri. Bevor die 2014 mit dem auch bei uns schon gefeierten Burn Your Fire For No Witness den Sprung in diverse Kritikerlisten schaffte und zum ersten Mal so etwas wie internationale Aufmerksamkeit erhaschen konnte, hatte sie schon beim winzigen Independent-Label Bathetic ein beachtliches, wenn auch im großen Pool an Songwriter-Mucke leider Gottes untergegangenes Meisterwerk aufgenommen.
Von den Grunge-Anleihen des Auftakts der zweiten LP keine Spur, bekommt man auf Half Way Home, dem Debüt auf LP-Länge von Olsen und ihrer Begleitband herrlich vorgetragenen Folk mit gespenstischer Stimmung aufgedrückt. Ihr bereits im anderen Review positiv erwähnter, dezenter Country-Twang bleibt auch hier im Hintergrund, macht den Gesang aber noch unwiderstehlicher. Wie sie sich im perfekten, mit coolem Rumpelbass augmentierten The Waiting "I didn't know what I was missing when I was alone" eingesteht und schließlich wehmütig verkündet: "Forgive me for wanting / I'm only learning life" - priceless! Dass der Großteil der elf Stücke in gewisser Weise das Thema Liebe umreißt, ist kein Geheimnis, eindimensional wird das tighte Songwriting dank Ausflügen in Richtungen wie Einsam- und Verletzlichkeit oder Erinnerungen aus der Kindheit aber in keinem Augenblick - ganz im Gegenteil. Im siebenminütigen Lonely Universe lässt die Amerikanerin zu schleppendem Drumbeat und sanften Country-Anleihen ihrem Kummer und der Vielfältigkeit ihrer Stimme freien Lauf, lamentiert und brummt und zirpt und konstatiert schließlich:
"Time to give up
that unforgiving act of altogetherness
And start living out your oldest childhood dreams
Well, losing your minds it ain't half as bad as it seems
And if you would take the risk
Well, it might be worth your time
It's only your life
It's only going by"
Es sind zwar nur kurze Momente, aber auch in der trüben, in elegischer Melancholie getränkten Nebelsuppe, die das Leben der Künstlerin in Gedanken generiert, gibt es ein Fünkchen Hoffnung, Licht und sogar unbeschwerte Leichtigkeit. Zuerst eröffnet die dicke Wolkenschicht der Sonne in The Sky Opened Up nur zaghaft Gelegenheit zum Scheinen, bittet mit bedrohlichem Bass und ordentlich Hall zum finsteren Tänzchen; erst danach löst sich der imaginäre Knoten der Beklemmung, zaubert mit dem beschwingten Free noch ein herrliches Pop-Gem aus dem Hut. Mehrstimmiger, fast schon euphorischer Gesang, der sich zum Ende hin noch in Olsens stimmlicher Brillanz entfaltet und helle Gitarrenlicks formen das Rezept, dem sich die Protagonistin im zugänglichsten Song der LP verschreibt und damit ausgezeichnet fährt.
Ansonsten herrscht willkommene Katerstimmung. Selbstredend. Dafür funktioniert ihre stets emotionale, beizeiten fragil anmutende, im nächsten Moment wieder Unzerstörbarkeit suggerierende Stimme, die sich von den Mitstreiterinnen der Folk-Szene abhebt, denen Olsen schon beim Auftakt-Track Acrobat in Bezug auf gesanglichen Facettenreichtum entwischt. Während sich ihr Organ zu sanftem Fingerpicking, fast psychedelischen Orgelklängen und geisterhafter Stimmung überschlägt, gelingt ihr das Kunststück, den Zuhörer in diesen ersten Minuten der LP schon in ihre kleine Welt zu ziehen. Vorhersehbarkeit scheint für die Sängerin ohnedies ein Fremdwort zu sein, stattdessen wartet man jeden einzelnen Drumbeat, jede Gitarren- und Bassnote gespannt ab und hängt primär natürlich an den Lippen, wenn sie Zeilen wie "Who cares? / I'm not a moralist / I'm just a lady with some time" singt.
Ziemlich sinnlos eigentlich, hier weitere Titel über den grünen Klee zu loben. Verdient haben sie es zweifellos, für ein Debüt ist Half Way Home insgesamt auch verdammt klasse geraten. Abgeklärt wie ein alter Fuchs und mit erfrischender Konstanz im Gepäck, offenbart Angel Olsen scheinbar - aber nur scheinbar, zwei Jahre später sollten ja wieder ungekannte hinzukommen - all ihre Vorzüge, charmiert als große Sängerin, mit ein paar der schönsten Songs des 21. Jahrhunderts und auch mit ihren Fähigkeiten als Gitarristin und Bandleaderin. Unfassbar ist nur, dass die renommierten Kritiker noch ein paar Jahre gebraucht hatten, um Olsens unverhohlene Gefühlsexpressionen, ihre unvergleichliche Stimme und zusammenfassend ihre unbestreitbare Brillanz zu erkennen. Ganz schön viel 'un-', für so eine exzellente Scheibe. And the award goes to...