von Kristoffer Leitgeb, 08.06.2019
Die verspielte und doch einsame Seite des neoklassischen Minimalismus.
Nein, ich werde jetzt nicht Soap&Skin erwähnen. Oh, shit... Agnes Obel ist anders als Österreichs verlässlichste musikalische Außergewöhnlichkeit. Sie kommt immerhin aus Dänemark, hat im Gegensatz zur in jugendlichen Jahren zu internationaler Aufmerksamkeit gekommenen Anja Plaschg erst mit 30 ihr Debüt abgeliefert und musiziert auch ganz anders. Also vielleicht abgesehen davon, dass auch hier eine junge Frau so ziemlich alleine am Werk ist, das Klavier für neoklassische Großartigkeiten nutzt und einschüchternd freudlos vom Albumcover blickt. Das sind Parallelen, die uns aber nicht weiter beschäftigen sollten. Denn Obel ist eine ganz eigene Geschichte, auf ihre Art anspruchsvoll, aber genauso eigenartig einladend und von einer wunderbaren, minimalistischen Einfachheit. Und die Einfachheit ist fast immer etwas Schönes, außer man will sie einem in der Politik verkaufen, wo sie grundsätzlich keinen Platz hat. In der Musik dagegen, noch dazu der neoklassischen, da kann sie ein Traum sein, wie einem "Philharmonics" beweist.
Wer nun ein größeres Streicherensemble, vielleicht gar ein Orchester erwartet, der hat sich vom Titel des Albums täuschen lassen. Agnes Obel arbeitet solo. Gäbe es nicht mittendrin ein Cover eines Songs von John Cale und hier und da vielleicht ein Stimmchen, das nicht das ihre ist, es wäre hier inklusive der Produktion nichts, was nicht von der Dänin kommt. Der leicht erkennbare Vorteil dessen ist, dass hier eine künstlerische Vorstellung vollumfassend umgesetzt werden konnte, ohne große Kompromisse eingehen zu müssen. Und Obels Vision ist eine der Einfachheit, des freien Raums für ruhige Momente, die aber gleichzeitig etwas Märchenhaftes in ihr fast gänzlich auf das Klavier aufgebautes Werk einbringt. Ihre besten Kompositionen sind eine beeindruckende Verbindung verträumter, verspielter Melodieliebe und atmosphärisch dichter, schwermütiger Klangbilder. Falling, Catching ist eigentlich ein zurückhaltender Einstieg in all das und trotzdem ist sind die zerbrechlich hohen Klavierakkorde bestens dazu geeignet, einen in das Album hineinzuziehen und die emotionale Ambivalenz der Musik einzufangen.
Die Höhepunkte klingen trotzdem etwas anders. Wallflower ist zwar genauso rein instrumental, bringt allerdings eine musikalische Schwere mit, die nicht nur das eingewobene, winselnde Cello, sondern auch die behäbig wiederholte Klaviersequenz verursachen. Das Ergebnis ist ein unterkühltes Schauspiel, das an Jonny Greenwoods Arbeit für "There Will Be Blood" genauso erinnert wie an Händels Sarabande, ohne sich dabei aber komplett von der tänzelnden Spielart am Piano zu verabschieden. Brother Sparrow steuert in die Gegenrichtung, bringt mit luftigen Zupfern an der Akustikgitarre einen Hauch von Folk hinein und kreiert damit schwebende Minuten, in denen auch Obels sanfte, hohe Stimme bestens zur Geltung kommt. Theoretisch würde das auch für die gesungenen Zeilen gelten, wäre die Dänin nicht bewusst der konkreten Lyrik ferngeblieben. Dem ist aber so, weswegen die kryptischen, bruchstückhaften Zeilen eher etwas von verbalisierten Farben und Stimmungen haben, als dass man sich zu konkreten Schlüssen hinreißen lassen könnte. Es ist wiederum ihr Verdienst, dass einem das fast durchgehend herzlich egal ist. Lediglich das herausragende Riverside besticht auch textlich und trägt auf dem Weg unglaublich viel zur düsteren, fast todessehnsüchtigen Stimmung bei, die aus dem gesetzten Klavierstück spricht:
[...]
Der Rest kommt meistens ohne solche Dinge aus, scheitert aber deswegen noch lange nicht. Was vielleicht mitunter ein Störfaktor ist, ist der nicht zu leugnende Eindruck, man würde in eine Spieluhr geworfen, in der einem plötzlich eine 30-Jährige entgegensingt. Zumindest die Albummitte erinnert melodisch frappant an die aus dem Eck bekannten Melodien, spielt sich mit wenigen Noten in Endlosschleife und strapaziert dabei phasenweise etwas die Geduld. Avenue entgeht dem schlicht und einfach dank des starken Refrains und den großartigen Streicher- und generellen Instrumentalparts, Louretta und das Cale-Cover Close Watch sind allerdings nur mäßig willkommen. Letzterer am allerwenigsten, was hauptsächlich am auf Dauer äußerst anstrengenden, tonangebenden Ticken im Hintergrund liegt. Das ist allerdings ein einmaliger Fauxpas. Im Vergleich dazu ist auch das unnötig mehrstimmige und wenig sympathisch gezupfte Just So ein ordentliches Stück Musik.
Natürlich ist man trotzdem an anderer Stelle weitaus besser aufgehoben und das günstigerweise sehr oft. Es hilft auch ganz gewaltig, dass Obel gegen Ende des Albums wieder zum Anfang zurückfindet und sich auf die Schönheit eines in der Stille erklingenden Klaviers besinnt. Das macht nicht nur Wallflower großartig, sondern auch On Powdered Ground, das einen würdigen Abschluss bildet und eine starke Balance aus reinen Pianopassagen und prägnanten Streicherstakkatos findet. Und nicht nur das, der Closer ist wohl auch das überzeugendste Beispiel für den großartigen Einsatz von Multitracking durch die Singer-Songwriterin, die damit im Albumverlauf immer wieder schon fast Choräle kreiert und damit einen Hauch von Dramatik zur ohnehin schon spürbaren Theatralik mancher neoklassischer Performance beisteuert. Es ist ein wichtiger Baustein in diesem dezent der Wirklichkeit entrückten, buchstäblich traumhaften, dann aber doch definitiv nicht idyllischen Ganzen, das Obel für ihr Debüt kreiert hat.
Und diese Szenerie, die sie hier in Tönen gestaltet, ist imposant und schlicht großartig anzuhören. Einem Album wie "Philharmonics" haftet etwas Mysteriöses an, das nur sehr bedingt überhaupt beschrieben werden kann. Wären da nicht diese merklichen Fehltritte inmitten der Tracklist, man würde wohl komplett versinken in der Musik, die einen auf gar nicht abschreckende Weise ummantelt. Agnes Obel ist die schwierige Aufgabe gelungen, ihr Album bedeutungsschwer klingen zu lassen, ohne dabei textlich wahnsinnig konkret zu werden, einfach nur, weil es auf atmosphärischer Ebene oft so eindringlich ist. Dahingehend gelingt der Dänin gleich noch ein anderes Kunststück, nämlich ihr Album die gesamte Zeit über in einem Zustand der emotionalen Ambivalenz zu belassen, wo man sich nicht sicher ist, ob man sich nun in träumerischer Schwerelosigkeit, in schwermütiger Einsamkeit oder in dramatischer Düsternis befindet. Das ist eine Leistung, die honoriert gehört und die verdammt viel für zukünftige Alben erwarten lässt.