Der Gipfel des 70er-Kitschs, nur manchmal durch Harmonie und Hochglanz zu großem Pop erhoben.
Wie sich die Zeiten nicht ändern. Zum einen würde heute keiner mehr in strahlend weißer Komplettmontur herumlaufen, während genau das, möglicherweise noch mit dem nötigen Paillettenbesatz, zeitweise die absolute Lieblingskluft der schwedischen Pop-Götter gewesen ist. Zum anderen würden Musiker, die heute so etwas abliefern, wie das schon visuell gewöhnungsbedürftige Quartett aus Skandinavien damals, mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder ausgelacht oder geschmacklich bestenfalls ähnlich eingeordnet werden wie Phil Collins, wohl eher aber wie Modern Talking. Vor über 40 Jahren war das noch nicht so, da konnte man ein so unfassbares Übermaß an musikalischem und emotionalem Kitsch Album für Album abliefern und wurde dafür nicht nur mit Millionenverkäufen belohnt, sondern auch noch mit einem Platz am Pop-Olymp, wo auch die meisten Kritiker noch in Ehrfurcht erstarren. "Arrival" ist in dieser Hinsicht für Anklage und Verteidigung gleichermaßen geeignet, beleuchtet in grellsten Farben die Stärken und Schwächen von Eurodiscopop in schwedischer Ausprägung.
Die Stärken sind leicht zusammengefasst: Benny und Björn, die beiden Männer im Hintergrund, sind einfach ziemlich beschlagene Komponisten, wenn es einem wirklich nur darum geht, glitzernde Pophymnen geliefert zu bekommen. Niemand auf diesem Planeten wird ernsthaft abstreiten können, dass da auf musikalischer Ebene ein Gefühl für die passenden Harmonien, im positiven Sinne einlullenden Gesangsmelodien und rundum stimmigen Arrangements da gewesen ist. Ansonsten wäre zum Beispiel S.O.S. nicht so ein Paradebeispiel höchsten Pop-Handwerks. Das verdammt ABBA vielleicht nicht unbedingt zu einem Schicksal als Single-Band, eine solche Rolle liegt aber irgendwie nahe. Dementsprechend ist es auch folgerichtig, die ausufernde Compilation "Gold: Greatest Hits" als Essenz dessen zu bezeichnen, was das Quartett ein Jahrzehnt lang getrieben hat. Gleichzeitig ist es nicht so, als wäre der Rest wirklich immer vernachlässigbare Fadesse oder schlimmeres gewesen. All das führt aber vom Thema weg.
Das Thema dieses Reviews ist der Kitsch, was womöglich unausweichlich ist, wenn man über ABBA schreibt, bei ihrer vierten LP aber definitiv nicht anders sein darf. Denn auf dem kommerziellen Höhepunkt angekommen, ist der Band ganz eindeutig das Gefühl für das Maßhalten in Bezug auf Prunk, Glanz und Melodrama in ihren Songs abhanden gekommen. Anders gesagt, ist da verdammt wenig Luft in diesen Songs, während man sich vom ersten Track an erdrückt fühlt von all dem Schmalz. When I Kissed The Teacher beleidigt einen dahingehend schon mit dem Titel, lässt einen dann dank der schwierig zu verarbeitenden Mischung aus lebhaftem, folkig angehauchtem Pop-Rock in wanddicker Ausführung und rechtlich nicht einmal wirklich grenzwertiger, jugendlicher Romantik eher verstört zurück als wirklich beschwingt oder beeindruckt. Netterweise ist hier textlich nichts sonst so nahe dran am vollkommen bedenklichen Niveau, gleichzeitig kann man kaum davon reden, dass auf der Ebene irgendwelche Offenbarungen oder eloquenten Kunststücke warten. Es wird sich verliebt, geliebt, getrennt, geschwärmt, nachgeweint und wieder aufgelebt, effektiv kommt aber verdammt wenig aus dem Tagebuchformat heraus, während die erschlossenen emotionalen Welten irgendwo zwischen den unerfüllten Träumen von Hausfrauen mittleren Alters und den noch bestehenden Träumen von heranwachsenden Mädchen angesiedelt zu sein scheinen. Sowas ist immer schwieriges Material, besungen von zwei der Harmoniesucht erlegenen Schwedinnen, vor allem aber umgeben von immer gleich lebensfroh dahintrabenden, hemmungslos mit allerlei produktionstechnischen Exzessen der Zeit angefüllten Arrangements, ist es umso schwerer zu schlucken.
Gleichzeitig muss man anmerken, dass es hier vereinzelt Lieder gibt, die nicht nur kompositorisch, sondern dank ihrer pointierten und einigermaßen gezügelten Umsetzung auch musikalisch ziemlich unwiderstehlich sind. Natürlich sucht man da zuerst unter den Singles und weil Dancing Queen als ideale Hymne für alle Frauen mittleren Alters, die noch einmal einen draufmachen wollen, so vor Kitsch überquellt, dass ich es niemals großartig nennen könnte, bleiben nur mehr Knowing Me, Knowing You und Money, Money, Money. Die haben den großen Vorteil, dass sie einen nicht aufgrund des Textes zusammenzucken lassen, sind allerdings zudem beeindruckend inszeniert und erheben die teilweise plumpen Zeilen zum großen Kino. Diesem Stichwort folgend, kann man natürlich feststellen, dass cineastische Dramatik in den rockigen Riffs, den unterschwellig omnipräsenten Keys und insbesondere den genialen mehrstimmigen Harmonien im Refrain von Knowing Me, Knowing You steckt. Schlecht ist daran allerdings genauso wenig wie am lockeren Klaviergeklimper von Money, Money, Money, dessen sehnsüchtiger Blick auf die Welt der Reichen und Schönen mit einer perfekten Balance aus ein bisschen unterdrückter Wut und dem nötigen sarkastischen Unterton punktet. Sonst ist da aber eigentlich nur mehr Tiger, das als aggressivster Song des Albums dazu auserkoren ist, die Tradition der erfolgreichen Hard-Rock-Imitationen der Band fortzusetzen. Gimmicky würde man es zwar heute nennen, schlechter klingt es deswegen aber kein bisschen.
Und der Rest? Ist keine Katastrophe per se. Es blitzt schon immer wieder handwerkliches Geschick durch, selbst in so etwas Dämlichem wie Dum Dum Diddle, dessen melodischer Trip in Richtung Vergnügungspark entgegen allen Regeln der Kunst funktioniert. Genauso ist That's Me routinierter Pop der passablen Sorte und Dancing Queen wiederum kann man trotz klobiger, hemmungslos übertriebener Umsetzung die verführerische Melodie nicht absprechen. Spätestens auf Albumlänge wird es aber anstrengend, den Schweden zuzuhören bei ihrem Versuch, Hochglanz-Pop voller Platitüden weder inhalts- noch leblos wirken zu lassen. Es gelingt dann auch nicht, weil My Love, My Life nach der Art grausam schmalziger Ballade klingt, die dereinst Linda De Mol für ihre Hochzeitsshows liebend gern verwendet hätte, weil Why Did It Have To Be Me? komplett deplatzierter Stampfer-Rock ist, dem man die dreckige Barattitüde keine zwei Sekunden abnimmt, weil der abschließende Titeltrack ein Instrumental ist, nach dessen hymnischem Kitsch in rein synthetischer Form wirklich niemand gefragt hat. Dass die Jahrzehnte später der CD-Fassung angehängten Tracks Fernando und Happy Hawaii dann auch nicht wirklich irgendwas können, außer anstrengend und langatmig zu sein, hilft nicht unbedingt.
Insofern bleibt nur ein Zwiespalt über, der sich aus der offensichtlichen routinierten Professionalität beim Arrangieren und spürbarem kompositorischem Geschick einerseits, dem viel zu oft fehlenden Gespür dafür, wann es genug ist, andererseits. "Arrival" ist einfach musikalisch überfrachtet und versinkt deswegen, aber auch wegen der mitunter jenseitigen Texte in einer unatmosphärischen Melodramatik, die mehr anstrengend als irgendwie fesselnd wirkt. Es gibt also hier nicht so wahnsinnig viel, das sich einwandfrei genießen ließe oder dem man jetzt einfach so das Prädikat popmusikalischer Höchstleistungen anheften könnte. Wie es zu letzterem im Falle dieses Albums gekommen ist, erschließt sich mir nicht ganz. Aber soll sein, die Welt wurde und wird Jahr für Jahr musikalisch mit weit schlimmeren Dingen malträtiert, als ABBA jemals zustande gebracht hätten. Dementsprechend geht sich auch trotz allem ein passabler Gesamteindruck aus.